1961 · Das Orgelschaffen Max Regers
Programmbuch 37. Deutsches Bachfest in Essen
Vor vierzig Jahren schrieb ich "Reger und die Orgel" (München, Halbreiter=Verlag), eine längst vergriffene Schrift, deren Inhalt heute auch längst überholt wäre. Damals war es meine Aufgabe, das Orgelschaffen meines im Jahr 1916 verstorbenen Lehrers in seiner Entwicklung und seiner Bedeutung für die deutsche Orgelkunst im Zusammenhang darzulegen heute, nach vier Jahrzehnten einer sich überstürzenden Entwicklung, die unsere Musik mehr verändert hat als Jahrhunderte vorher, muß die Frage lauten: Was bedeutet uns Max Reger heute noch? Von mancher Seite her lautet die Frage: Bedeutet er uns heute überhaupt noch etwas? Nachdem vor einigen Jahren ein namhafter deutscher Organist diese Frage rundweg verneint hatte, erhoben sich doch zahlreiche und gewichtige Stimmen, die diesem Urteil nicht zustimmten, so daß auf diese Weise die Diskussion um Max Reger, die vor den uns alle bedrängenden Fragen der Gegenwart in den Hintergrund getreten war, wieder auflebte, und die Frage "Was bedeutet uns Max Regers Orgelschaffen heute?" von neuem gestellt wurde.
Die Tatsache, daß auf dem 37. Deutschen Bachfest Reger mit einigen seiner bedeutendsten Orgelwerken zu Wort kommt, läßt erkennen, daß die Frage nach seiner Bedeutung jedenfalls nicht verneint wird. Zwei Weltkriege und zwei Revolutionen liegen zwischen ihm und unserer Gegenwart; er wirkt heute nicht mehr als Revolutionär wie um die Jahrhundertwende, als er den stagnierenden Teich der deutschen Orgelkunst durch seine für damals unerhörten Werke in wilde Bewegung brachte. Wir stellen ihn als Gesamterscheinung mit Strauß, Pfitzner und Mahler zusammen, alle vier Vertreter der deutschen Spätromantik; aber Regers besondere Eigenart ist durch zwei Stilmomente bestimmt, die den andern drei genannten Meistern fehlen: durch eine Wiederaufnahme des polyphonen Stils und der polyphonen Formen des Zeitalters von Bach, und durch eine auf Riemann fußende Ausweitung der funktionellen Harmonik bis an die letzten Grenzen der Tonalität eine Grenze, die Reger nie überschritten und streng eingehalten hat. Die Adaption der Formen der Fuge, der Passacaglia, der cantus firmus-Technik, Formen, die einmal lebendig gewesen waren, die aber das 19. Jahrhundert im Theorie=Unterricht hatte verstauben lassen, führte ihn zwangsläufig zur Orgel. Reger ist nie ein Orgelspieler im eigentlichen Sinn gewesen, es fehlte ihm vor allem an der Pedaltechnik, aber er hatte das Glück, in Karl Straube einen Freund und genialen Organisten zu finden, der diesen anfänglich für unspielbar erklärten Werken die Bahn brach und durch sein klanglich differenziertes, geistig tief eindringendes Spiel die Orgel, die so lange entthronte angebliche Königin der Instrumente, wieder in ihre alte Stellung einsetzte. Dazu gehörte auch die Konzertorgel um 1910 mit ihren drei bis vier Manualen, mit Walze, Schweller, freien Kombinationen, mit ihrem orchestralen, differenzierten Klang ein Klangideal, das bald darauf durch Albert Schweitzers Forderungen nach einer Bach=Orgel, und wieder wenige Jahre danach durch die norddeutsche Orgelbewegung, die Hans Henny Jahn ausgelöst hatte, jäh umgestürzt wurde. Praktisch gesprochen lautet nun die Frage: Kann man auf unseren Orgeln, die nach einem so ganz anderen (und sagen wir es offen: richtigeren und höheren) Klangideal ausgerichtet sind, überhaupt noch Reger spielen? Auf einer Arp=Schnitger=Orgel sicherlich nicht; aber es gibt heute schon eine ganze Zahl von Instrumenten, die das Überzeitliche Regers Orgelkunst hinlänglich vermitteln die zeitgebundenen kleinen cresc. und dim. und Temporückungen mögen ruhig wegfallen. Sein Bestes hat Reger wohl in seinen großen Fantasien über evangelische Kirchenlieder gegeben ("die Protestanten wissen ja gar nicht, was sie an ihrem Choral haben", rief der Katholik Reger damals aus heute wissen sie es!): nach einer kurzen freien Einleitung wird der Choral in allen seinen Strophen durchkomponiert, wobei meist eine Fuge mit dazutretendem Choral den Abschluß bildet. Eine der schönsten davon ist die über "Halleluja, Gott zu loben, bleibe meine Seelenfreud!", eine heute wenig bekannte Melodie, die Reger wohl wegen des überschwenglichen Ausdrucks der ersten Zeile mit ihrem Aufstieg zu None angezogen hat.
Sein Bekenntnis zu Bach als dem Meister aller Meister hat Reger in seiner Fantasie und Fuge op. 46 abgelegt. Wieviel tiefer dringt er in die Magie der vier Buchstaben B A C H ein als seine Vorgänger, die dasselbe Thema bearbeitet haben! Die Form und der Geist der Sonate ist der Orgel eigentlich fremd, und Regers d=moll=Sonate hat mit der klassischen Sonate wenig mehr als die Dreisätzigkeit gemeinsam: der 2. Satz ist eine Invokation, die in den in lichtester Höhe erscheinenden Choral "Vom Himmel hoch da komm ich her" ausklingt; der dritte Satz ist eine Fuge mit einer weitausgreifenden Einleitung. Der Gegensatz zu Hindemiths Sonate macht den tiefeingreifenden Stilwandel, der zwischen Reger und der Neuen Musik liegt, sinnfällig, aber müssen damit Werturteile verbunden sein? Und wird nicht Hindemith von vielen Jungen heute schon ähnlich kritisch beurteilt wie vor kurzem noch Reger von der Generation der Hindemithschüler? Wie rasch wischt die Musikgeschichte solche zeitbefangenen Werturteile weg, und so wie sie jeden Scheinruhm unerbittlich versinken läßt, so sicher und unbeirrbar bewahrt sie das Gültige. Dazu gehört auch das Orgelschaffen Regers, nicht nur weil es den Anstoß zum Wiederaufstieg der Orgel gegeben hat, sondern ebensosehr wegen des in ihm niedergelegten souveränen Könnens und wegen der Kraft und Eigenart der Persönlichkeit dieses so viele Widersprüche in sich vereinigenden Meisters.
Quelle:
37. Deutsches Bachfest in Essen
4. bis 8. Oktober 1961
Programmbuch
S. 85 + 86