1961 · Georg von Albrecht

Festschrift

Zum Geleit

Wer ist Georg von Albrecht, von dessen Schaffen die folgenden Seiten Zeugnis ablegen sollen? Er ist durch Geburt und Bildung eine vielschichtige Persönlichkeit, und nur aus dieser Vielschichtigkeit ist auch sein kompositorisches Schaffen zu erklären. Geboren wurde er am 19. März 1891 in der russischen Stadt Kasan, wo sein Vater, der Mathematiker David Gottlieb von Albrecht, ein Deutscher von Geburt, den Posten eines Universitätsinspektors bekleidete, eine Stellung, mit der er den Titel eines Wirklichen Staatsrates und den Beamtenadel erhielt. Schon bald darauf wurde der Vater in gleicher Eigenschaft an die Universität Sankt Petersburg berufen, wo der Knabe zwischen der Welt der Bücher und der Wissenschaft und der Welt der Musik aufwuchs: seine Mutter war Russin, Tochter eines Kosakenobersten im Kaukasus, in Tiflis als Pianistin ausgebildet; sie konzertierte nach ihrer Verheiratung nicht mehr, täglich aber hörte der Knabe zuhause Kammermusik und Klaviermusik von Mozart, Beethoven, Chopin und anderen, verbrachte auch selbst seine Zeit am liebsten am Klavier; eifrig zeichnete er Volksmelodien auf, die er in der Krim, im Kaukasus oder im Uralgebirge während der Ferienreisen hörte. Nach dem Abitur enttäuschte ihn der Universitätsbetrieb. Er hatte erwartet, daß sich ihm nun die Pforten des Wissens weit auf tun würden; als er aber merkte, daß jeder Professor seinen engbegrenzten Stoff lehrte und darüber nicht hinaus sah, wandte er sich enttäuscht ab und der Musik zu. Den Ausschlag gab Max Pauer, der im Winter 1910/11 in Petersburg alle Sonaten von Beethoven spielte und nach einer Prüfung sich bereiterklärte, Georg nach Stuttgart als Schüler mitzunehmen. Die Mutter ging mit nach Stuttgart, der Vater, inzwischen Geheimrat und Oberinspektor der Fachschulen der Handelsmarine geworden, lebte weiter in Rußland mit Georgs Geschwistern zusammen. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges überraschte den Sohn in den Ferien in Rußland; er wurde nicht eingezogen, konnte für die Wehrmacht konzertieren und seine Kompositionsstudien bei Tanejew (Moskau) und Glasunow (Petersburg) fortsetzen.

Durch die Revolution wird er nach der Krim verschlagen, alles Vermögen ist verloren, er bringt sich und seine Familie durch, indem er einen Posten als Kritiker an einer Zeitung annimmt und eine Musikschule gründet. Einmal sollte er mit einer Gruppe angeblicher Gegenrevolutionäre erschossen werden, da er aber zufällig zwei Jahre vorher der späteren Frau des Kommandanten, die beim Theater gewesen war, gute Kritiken geschrieben hatte, wurde das Urteil nicht vollstreckt. Als die Zeiten etwas ruhiger wurden, ging er nach Moskau als Lehrer an das Konservatorium; er setzte dort seine Sammlung von Volksliedern fort, ähnlich wie das zu gleicher Zeit Kodaly und Bartók in Ungarn getan hatten. Er wurde 1923 zu einer Studienreise nach Deutschland geschickt, und es gelang ihm, seine Mutter als Sekretärin mitzunehmen. Seither lebt er in Stuttgart. Er verdiente zuerst seinen Unterhalt als Kinospieler im Stummfilm, als Dirigent des russischen Kirchenchores und als Musikkritiker. 1925 veranstaltete er seinen ersten Kompositionsabend und wurde daraufhin Lehrer an dem von der Hochschule abgezweigten neu gegründeten Konservatorium von Karl Adler. Er gründete eine musikalisch-ethnographische Vereinigung, besonders zur Pflege der griechisch-russischen und der frühmittelalterlichen Kirchenmusik, und trat immer häufiger als Komponist hervor. Als durch das dritte Reich das Konservatorium aufgelöst wurde, holte ihn bald darauf die Musikhochschule als Lehrer für Gehörbildung, und einige Jahre später übertrug Hugo Holle als Direktor ihm eine Tonsatzklasse. Im zweiten Weltkrieg wurde unter Hermann Erpf ein Teil der Hochschule nach Trossingen verlagert, und Georg von Albrecht wurde die Leitung der dortigen Abteilung übertragen. Mit Ernst Lothar von Knorr zusammen steuerte er das Hochschulinstitut in Trossingen durch Kriegsende, Zusammenbruch und Besatzung hindurch. Im Herbst 1945 wurde er zum Professor ernannt, und als im Februar 1946 die Hochschule in Stuttgart unter meiner Leitung wieder eröffnet wurde, stand er mir in den ersten schwierigen Jahren mit seiner Erfahrung, seinem Wissen und seinem uneigennützigen, unbestechlichen Urteil als stellvertretender Direktor zur Seite. Bald nach meiner Pensionierung wurde auch G. v. Albrecht in den Ruhestand versetzt, nahm aber eine Berufung an die staatl. anerk. Musikhochschule in Heidelberg als Tonsatzlehrer der Abteilung für Schulmusik an, wo er heute noch tätig ist.

Aus diesem Lebenslauf ist die Grundhaltung seiner Werke zu verstehen: er steht als Komponist fest auf dem Boden der Tradition, nicht nur der deutschen sondern auch der älteren östlichen, war aber stets dem Neuen zugewandt. Als Kritiker hat er die ersten Tage für zeitgenössische Musik in Donaueschingen miterlebt. Besonders hat ihn von jeher das Problem der Polytonalität interessiert. Er faßt es anders als Milhaud und Satie, die polytonal um der Farbigkeit willen komponieren; v. Albrecht möchte Stimmen polytonal so führen, daß sie sich doch einem gemeinsamen höheren Gesetz unterordnen. Aber das ist ja nur eine Seite seines aus mannigfachen Komponenten zusammengesetzten Stils. Davon zu reden ist die Aufgabe der folgenden Beiträge; hier sei nur noch mit ein paar Worten des Menschen gedacht, auf den Goethes Wort 'Edel sei der Mensch, hilfreich und gut' so genau paßt wie auf wenige. Es geht eine große Wärme von ihm aus, als Künstler versucht er die Musik denkend zu begreifen, und wenn man ihn als Freund gewonnen hat, dann kann man sich auf ihn verlassen. Er ist aller Großsprecherei abhold, ist nachgiebig und nachsichtig, aber nicht, wenn es um die Ehrlichkeit in der Kunst geht.

Quelle:
Festschrift Georg von Albrecht
zum 70. Geburtstag dargebracht von Kollegen und Freunden
Ichtys-Verlag GmbH Stuttgart
S. 9 10