1962 · 2. Deutscher Jugend-Klavierwettbewerb
in Stuttgart
24.-27. März 1962 ( Ewig junges Klavier )
Nachdem im Jahre 1960 in Bonn ein 1. Jugendwettbewerb im Klavierspiel ausgetragen wurde, zu dem die Teilnehmer aus der ganzen Bundesrepublik aufgerufen waren, aber nur diejenigen Spieler zugelassen wurden, die bereits in einem Länderspiel oder in einem örtlichen Wettbewerb einen Preis erhalten hatten, so daß also nur die Spitzenklasse um die Palme rang, fand der zweite derartige Wettbewerb Ende März in Stuttgart statt und erfüllte hinsichtlich der Beteiligung und der zum Teil erstaunlichen Leistungen vollauf die Erwartungen, die man auf ihn setzen durfte. Gemeldet waren 37 Bewerber. Einer schied wegen Erkrankung aus, sechs andere, die, ohne Preisträger eines örtlichen Wettbewerbs zu sein und ohne vorherige Vorprüfung durch eine zu weite Masche des Prüfungsnetzes geschlüpft waren und unzureichende Leistungen boten, mußten während des Auswahlspiels ausgeschieden werden, so daß insgesamt 30 Bewerber angetreten waren. Den weitaus größten Prozentsatz stellte Bayern mit 14 Teilnehmern, dann folgte Baden-Württemberg mit 6, Hannover mit 4, Hessen und Nordrhein-Westfalen mit je 3 Teilnehmern; Berlin, Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein waren (wohl wegen der weiten Entfernung und der hohen Fahrtkosten) nicht vertreten. Die Bewerber waren in zwei Altersstufen eingeteilt, die jüngere ging bis zum vollendeten 12., die ältere bis zum vollendeten 16. Lebensjahr. Die Durchführung lag in den Händen der Musikalischen Jugend Deutschlands, Sitz München, und des Verbands Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer; sie wurden durch die tätige Mithilfe des Kulturamts der Stadt Stuttgart, des Rundfunks und der Klavierindustrie unterstützt. Die Jury setzte sich aus sieben Mitgliedern zusammen: Prof. Ernst Lothar v. Knorr, dem Präsidenten des VDTM, als erstem, Fritz Büchtger als Vorsitzendem der Musikalischen Jugend und des Landesverbands Bayern als zweitem Vorsitzenden, ferner gehörten ihr an: Frau Professor Rosl Schmid (München), Prof. Reimar Dahlgrün (Hannover), Prof. Franzpeter Goebels (Detmold), Prof. Wladimir Horbowski (Stuttgart) und der Unterzeichnete. In aufreibender und gewissenhafter Arbeit wurden folgende Preisträger ermittelt: in der oberen Altersgruppe erhielt Rudi Matzka (14 Jahre) aus Langen in Hessen den 1. Preis (400 DM); den 2. Preis (250 DM) bekam Elisabeth Altnöder (16 Jahre) aus München; den 3. Preis (150 DM) Birgitta Lutz (16 Jahre) ebenfalls aus München. In der unteren Altersklasse erhielt den 1. Preis (200 DM) Gottfried Hefele (11 Jahre) aus Göggingen bei Augsburg; den 2. Preis (150 DM) Ingeborg Schmidt (12 Jahre) aus Wuppertal-Barmen; zwei 3. Preise zu je 100 Mark erhielten Erich Faltermeier (11 Jahre) aus München und Detlef Hampel (12 Jahre), ebenfalls aus München. Außerdem wurden drei Förderungspreise von je 50 DM ausgegeben an die 10jährige Dorothee Hengen aus Ransbach in Hessen, an die 15jährige Waltraut-Etta Habrich aus Altötting (Bayern) und den 15jährigen Hubert Berr aus Tischenreuth (Bayern). Von diesen l0 Auszeichnungen fielen also nicht weniger als 7 an Bayern, 2 an Hessen, 1 an Nordrhein-Westfalen. Bayern, das etwa die Hälfte der Teilnehmer gestellt hatte, vereinigte damit etwa drei Viertel aller Preise auf sich. Das war keine "Schiebung" zugunsten der beiden Münchner Mitglieder der Jury, sondern bewies die faktische Überlegenheit der aus Bayern kommenden Teilnehmer, von der jeder, der wollte, sich selbst überzeugen konnte und überzeugte, denn die Ausscheidungsspiele waren öffentlich. Es wurde daher allgemein als ein makabrer Witz empfunden, daß eine enttäuschte Klavierlehrerin durch einen Dunkelmann mit aufgeklebtem falschen Bart (!) vor dem Schlußkonzert ein Pamphlet gegen die Jury verteilen ließ, in dem die Jury schnöder Parteilichkeit beschuldigt wurde. Dem gegenüber ist festzustellen, daß, wenn der Schüler eines Mitglieds der Jury sich am Wettbewerb beteiligte, der Lehrer bei der Beratung über seinen Schüler den Sitzungsraum verlassen mußte und ihm nur die Schlußnote mitgeteilt wurde.
Es war ein guter Gedanke gewesen, das Süddeutsche Jugend-Sinfonieorchester unter der Leitung von Erich Reustlen (Reutlingen) zur orchestralen Mitwirkung heranzuziehen: Jugend spielte für Jugend. Zur Einleitung erklang der 1. Satz der Achten Symphonie von Beethoven, anschließend erläuterte Prof. v. Knorr in einer Festrede den Sinn und die Bedeutung des Wettbewerbs, Fritz Büchtger verteilte die Preise, und dann betraten die jungen Spieler unbefangen das Podium, auch ungestört durch die Zudringlichkeit der Pressefotografen. Wir hörten den 1. Satz des Klavierkonzerts F-Dur von Mozart (KV 459), von Elisabeth Altnöder sauber und stilsicher vorgetragen, hierauf die (von allen Berufspianisten gefürchtete) D-Dur-Sonate von Scarlatti (Longo Nr. 461), von der 12jährigen Ingeborg Schmidt im Tempo und fehlerlos wiedergegeben. Ihr folgte die 10jährige Dorothee Hengen, die aus Haydns Es-Dur-Sonate (Nr. 35 der Peters-Ausgabe) den ersten und zweiten Satz gar nicht klavierstundenmäßig, sondern so spielte, als ob sie die Empfindungswelt dieser Musik schon begreifen könnte. Den Vogel schoß der 11jährige Gottfried Hefele ab, der die (1948 komponierte) Sonatine in Es-Dur von Heinrich Sutermeister schlechthin konzertreif vortrug. Nach diesen erstaunlichen Leistungen der ganz Jungen hatte es der erste Preisträger der älteren Gruppe, Rudi Matzka, nicht leicht, seinen Platz zu behaupten. Er zeigte mit dem Rondo op. 16 von Chopin, das er flüssig und klangschön vortrug, daß er ein ausgesprochenes Klaviertalent ist; er durfte am Schluß des Konzertes noch den 1. Satz des Krönungskonzerts (KV 537) von Mozart vortragen. Beide Konzerte wurden vom Orchester exakt und feinfühlig begleitet. Birgitta Lutz spielte Mendelssohns Variations sérieuses packend und technisch überlegen, Erich Faltermeier und Detlef Hampel zeigten an kurzen Stücken von Ravel und Reger ihre Musikalität und eine für ihr Alter hoch entwickelte Technik Es gab Hervorrufe und stürmischen Applaus. Hier hört die reine Berichterstattung auf, und wir müssen uns nun die Frage stellen, was wir aus dem Stuttgarter Wettbewerb lernen können? Die erste Frage stellen wir an uns selber:
Hast du, habe ich das mir anvertraute Gut immer so verwaltet, wie es die Förderung von Hochbegabten verlangt? Werden wir imstande sein, diese Kinder und Jugendlichen weiter so zu führen, daß sie nicht überfordert und durch vorzeitige, billige Publikumserfolge vom ernsten Weiterstreben abgehalten werden? Erkennen wir die Verpflichtung, die ein solcher Wettbewerb den verantwortlichen Erziehern auferlegt? Bei manchen der dreißig jungen Spieler waren in der Jury Stimmen zu hören: hochbegabt aber der müßte in andere Hände kommen. Wie das anstellen, ohne die bisherige Lehrkraft bitter zu kränken? Deutlich zeigte es sich, daß die Pubertätskrise, die im Alter von 13 bis 15 Jahren eintritt, sich auch auf die Musik auswirkt. Als Kinder, im Stadium der Unschuld, spielen sie auch recht schwere Werke ohne Lampenfieber ("ich kann es ja, warum sollte ich Angst haben?"); dann aber kommen die Zweifel: mache ich das richtig, kann ich das denn überhaupt? Es ist daher ernstlich zu überlegen, ob nicht das Höchstalter um zwei Jahre heraufgesetzt werden sollte: ein Hochbegabter kann schon mit 17 oder 18 Jahren gestalten, oder er kann es auch später nicht. Auch müßte ein Weg gefunden werden, bei weiten Fahrten vom Wohnort zum Ort des Wettbewerbs Reisezuschüsse zu gewähren, damit die Teilnahme nicht vom Geldbeutel des Vaters abhängt. Ferner wäre zu prüfen, ob man nicht unzulängliche Leistungen dadurch von vornherein ausschließen könnte, daß die Landesverbände selbst eine Vorwahl vornehmen (auch bei Preisträgern örtlicher Wettbewerbe) und so imstande sind, für ihre Kandidaten bis zu einem gewissen Grad die Verantwortung zu übernehmen. Da der nächste Bundeswettbewerb erst in zwei Jahren sein soll, so ist genügend Zeit, die Erfahrungen des Stuttgarter Wettbewerbes auszuwerten. Örtliche und regionale Wettbewerbe dienen dazu, die Freude am eigenen Spiel, an der eigenen Leistung zu steigern, und daher braucht an sie kein allzu strenger Maßstab angelegt zu werden. Anders ist es mit dem Bundeswettbewerb. Die meisten der jungen Spie1er des Stuttgarter Schlußkonzerts werden die Musik als Beruf ergreifen und haben die begründete Hoffnung, die Konzertlaufbahn einzuschlagen. Sicherlich wird ein Teil wieder abspringen, aber eine konsequente, großzügige, zugleich milde und strenge Förderung dieser jungen Talente kann zum Teil wenigstens dafür einspringen, daß bei uns der Staat eine künstlerische Förderung besonders begabter Kinder nicht nur nicht übernimmt, sondern sie durch die immer höheren Anforderungen, die er in der Schule an sie stellt, sogar erschwert. Hier liegt die große und verantwortungsvolle Aufgabe, die sich die musikalische Jugend und die Tonkünstlerverbände gestellt haben, eine Aufgabe, bei der jedes erreichte Ziel einen neuen Anfang bedeutet.
Hermann Keller
Quelle:
Musik im Unterricht, Allgemeine Ausgabe
Heft 5, 53. Jahrgang, Mai 1962