1962 · Bach und Händel in Japan

Musica

Der europäische Musiker, der zum ersten Male Japan besucht, bringt die Vorstellung mit, dort eine alte japanische Musikkultur vorzufinden, auf welche die europäische nur oberflächlich aufgepfropft sei. Das ist aber nicht der Fall. Das ganze Konzertleben in den Städten Japans wirkt ausschließlich europäisch. Die Ausbildung an den Musikhochschulen ist dieselbe wie bei uns. Was die Kinder in der Volksschule lernen, sind Lieder nach unserem Musiksystem. Eine echt japanische Musik, wie man sie in altjapanischen Theatern (Kabuki und Nô-Spielen) zu hören bekommt, ist für den heutigen Japaner fast ebenso fremd und exotisch wie für uns. Es ist eine, so glaube ich, bis jetzt zu wenig beachtete Tatsache, daß erst durch Rundfunk und Schallplatte die europäische Musik tatsächlich die Weltsprache geworden ist, welche die eingeborenen Musikkulturen des Ostens immer mehr verdrängt. Dies ist im fernen Osten noch mehr der Fall als etwa in den arabischen Ländern, z. B. in Ägypten. Diese Adaption der westlichen Musik ist nicht etwa nur äußerlich, wie wir oft meinen, sondern geht sehr viel tiefer. Im öffentlichen Konzertleben steht Beethoven an erster Stelle, aber dicht dahinter kommt Bach, während Mozart und Haydn erst später folgen. Wilhelm Kempff spielte in neun Konzerten alle Sonaten und Konzerte Beethovens, der Rundfunk übertrug die Konzerte, und die Sendungen mußten auf Wunsch der Hörer gleich darauf wiederholt werden. Meine Vorlesungen über die Klaviermusik Bachs an der Musashino-Hochschule für Musik in Tokyo waren von 600 800 Hörern besucht, meist Mädchen, denn die männliche Jugend sucht sich auch in Japan heute besser bezahlte Berufe als den eines Musikers. Für so viele Mädchen reicht natürlich die Aufnahmefähigkeit des Konzerts und des Privatmusikunterrichts nicht aus; sie erhalten daher noch zusätzlich einen wissenschaftlichen Unterricht, so daß sie an Volksschulen als Musiklehrerinnen mit wissenschaftlichem Nebenfach eingesetzt werden können.
Man spielt auch in Japan schon aus Urtextausgaben; das ganze deutsche Schrifttum über Musik ist dort bekannt und wird eifriger und aufmerksamer studiert als bei uns, die wir uns im Zustand einer dauernden Überfütterung befinden und nichts mehr richtig verdauen können. Für meine Vorlesungen standen mir ein Flügel, ein Cembalo, ein Clavichord und eine viermanualige Orgel zur Verfügung. Es ist die einzige große Orgel in Japan. Von diesem Instrument aus, das vor einigen Monaten aufgestellt wurde, kann nun die Orgelmusik Bachs ihren Einzug halten. Freilich: die Musikausbildung ist auf die Praxis gerichtet, die theoretische und wissenschaftliche Ausbildung steht noch in den Anfängen, aber die Aufnahmebereitschaft ist groß, und gerade Stilfragen Bachs und der alten Musik finden großes Interesse. Die großen Chorwerke Bachs sind jedes Jahr in mehreren Aufführungen zu hören Es gibt zahlreiche Oratorienchöre in der Millionen-Stadt Tokyo.
Wie fast überall, so leidet auch Japan an einem Mangel an Streichern. Das hängt natürlich eng mit der Existenzfrage des jungen Musikers zu sammen. Gut ist die Blasmusik, sehr gut und mit gutem Stimm-Material versehen sind die Chöre, die Bach-Kantaten deutsch singen, aber zuweilen italienische Texte in japanischer Übersetzung. Da die Sprache reich an Vokalen ist, so kommt sie der Musik weit entgegen. So hörte ich die erste Aufführung einer Händel-Oper in Japan: Xerxes, auf japanisch gesungen. Die Titelrolle, die ja für einen Kastraten geschrieben ist, wurde von einem Mann dargestellt. Die mehr als anspruchslose Handlung mit den paar Liebeleien und Verwechselungen wurde mehr im Stil eines Singspiels aufgefaßt und fand lebhaften Beifall. Einstudiert war sie von Paul Cadow, einem gebürtigen Lübecker. Auch der "Messias" ist häufig zu hören, während die anderen Oratorien dem Japaner stofflich zu fremd sind. Noch ein anderes Chorwerk hörte ich am Musashino-College: das sehr selten aufgeführte "Stabat mater" von Rossini. So ist dem deutschen Musiker in Japan nicht nur Bach und Händel, sondern auch Rossini begegnet, und wieviel anderes Unvergeßliches noch, über das zu berichten den verfügbaren Raum weit überschreiten würde!

Hermann Keller

Quelle:
Musica 16, 1962, S. 83

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Hinweis:
siehe auch "Briefe aus Japan"