1962 · Eindrücke aus Japan

Musik im Unterricht

Langsam senkt sich das Flugzeug, das in blauer Höhe bei scheinbar stillstehender Sonne den Pazifik überquert hatte, zum Flughafen von Tokio (sprich Tokjo) herab; rasch sind die Einreiseformalitäten erledigt, und drei junge Musiker, die in Deutschland studiert hatten, nehmen mich in Empfang, sie werden mir nun auf fünf Wochen als Betreuer und Dolmetscher dienen. Ich bin auf Einladung des Musashino-College of Music in Japan, um Vorlesungen über die Klavier- und Orgelwerke von Bach zu halten; dazu kommen weitere Vorlesungen (die immer Satz für Satz ins Japanische übersetzt werden) über die Musik in der Kultur des Barocks, über die Ornamentik Bachs, im Deutschen Kulturinstitut über Händel, und über verwandte Gebiete. Ich habe noch nie eine so große und selten eine so aufmerksame Hörerschaft gehabt: meist 600 bis 800 Studierende, dazu einige Lehrer und Gäste dieser größten und wohl auch bedeutendsten Ausbildungsstätte für Musik in Japan. Zur Illustration stehen mir ein Steinway, ein Neupert-Cembalo, ein Clavichord und eine viermanualige Orgel von Klaiss in Bonn (die erst vor ein paar Wochen aufgestellt und von Wilhelm Kempff eingeweiht wurde) zur Verfügung, dazu die besten Schüler und einige junge Lehrer der Anstalt. Ich bin erstaunt über die Großzügigkeit dieser privaten Musikhochschule, die z B. eine Bibliothek hat, die nicht nur die ganze praktische Musik, sondern auch alle Gesamtausgaben, Denkmäler und eine Reihe von Seltenheiten besitzt, die ich in Europa noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, z. B. die Erstausgabe der Sonate op. 31 Nr. 1 von Beethoven mit den vier von Nägeli dazukomponierten Takten in der Coda des ersten Satzes, oder beide Erstausgaben der Sonaten op. 2 mit der Widmung an Haydn: auf der ersten ist er als "Ma tre de Chapelle" des Fürsten Esterhazy, auf der zweiten (sonst gleichlautenden) als "Docteur en musique" betitelt, wahrscheinlich auf seinen Wunsch, da er diese Würde ein paar Jahre vorher in Oxford erhalten hatte. Das College besitzt auch eine Instrumentensammlung, in der neben alten deutschen Instrumenten wie Viola pomposa, Zinken u. a. natürlich besonders Ostasien vertreten ist: Indien, Tibet, China, Korea und Japan. Dem heutigen Japaner, der nicht Fachmann in Instrumentenkunde ist, sind diese Instrumente ebenso fremd wie uns die des Mittelalters. Der Europäer, der zum erstenmal nach Japan kommt, bringt die Vorstellung mit, dort einer reichen einheimischen Musikkultur zu begegnen, auf welche die unsere nur oberflächlich aufgepfropft sei. Das ist aber nicht der Fall. Wo immer Musik gelehrt wird, da wird europäische Musik gelehrt, auch in den Schulen und selbstverständlich in den Hochschulen, deren Niveau in der praktischen Ausübung kaum hinter Europa zurücksteht, wohl aber in der theoretischen und wissenschaftlichen Fundierung. Japan scheint heute etwa da zu stehen, wo wir 1910 standen: der Heros der Musik ist Beethoven, aber dicht hinter ihm steht Bach, während Mozart und Haydn noch im Hintergrund stehen. Kempff spielte in sieben Konzerten auf Einladung des Musashino-College alle Klaviersonaten Beethovens, dazu an zwei Abenden die fünf Klavierkonzerte, gab also neun Abende, die vom Rundfunk übertragen wurden und auf Wunsch der Hörer gleich darauf noch einmal gesendet werden mußten. Man spielt auch in Japan schon aus (deutschen) Urtextausgaben, diskutiert Aufführungsfragen der Barockmusik, ist genau über die wichtigen Neuerscheinungen im europäischen nicht nur deutschen Schrifttum orientiert. Daneben halten sich aber noch wie Reste von Schnee im Frühling die Czernyschen Ausgaben der Bachschen Klavierwerke, und es ist eine meiner Aufgaben, dagegen anzugehen. Von der großen Orgel im Beethovensaal des Musashino-College wird die Orgelmusik, die bisher in Japan noch in den ersten Anfängen liegt, einen mächtigen Auftrieb erhalten können. Dieser Siegeszug der europäischen, besonders der klassischen deutschen Musik, ist wahrscheinlich durch die weltweite Verbreitung der Schallplatte wesentlich gefördert und beschleunigt worden. Ich hörte im Musashino-College u.a. die erste Aufführung einer Händel-Oper in Japan; Xerxes wurde mit eigenen Kräften, in japanischer Übersetzung, die Kastratenrolle des Xerxes von einem Mann dargestellt, frisch und lebendig gegeben, und zum ersten Male in meinem Leben hörte ich das "Stabat Mater" von Rossini, über das bekanntlich Richard Wagner die Schale seines Spottes ausgegossen hat, aber ist es etwa schlechter als das "Liebesmahl der Apostel"? Es ist opernhaft wie das Requiem von Verdi, aber in vielen Einzelheiten fesselnd, ja genial.

Altjapanische Bühnenkunst erlebte ich im Kabuki-Theater und in den No-Spielen. Das Kabuki-Theater, im 17. Jahrhundert entstanden, dramatisiert die männlichen Tugenden der Japaner: Tapferkeit, Ehrfurcht vor den Eltern, Selbstbeherrschung, Familienrache sozusagen mit Zeitlupe; es geschieht wenig, es wird wenig gesprochen, es gibt keine Nebenhandlung, man vertieft sich ganz in den Gefühlsgehalt jeder Szene wie ärmlich kamen mir dagegen unsere bürgerlichen Opern des 19. Jahrhunderts vor! Die Vorstellung dauerte mit einer kurzen Mittagspause von 11 bis 16 Uhr. Als um 16 Uhr geschlossen werden mußte, war die Handlung noch nicht aus; die letzte Szene war ein Fest beim General, auch dieses in zeremonieller Regungslosigkeit, bei dem aber ein über 6ojähriger berühmter Schauspieler wunderbar den Liebestanz eines jungen Mädchens aufführte, mit sparsamsten Bewegungen und mit vollendeter Anmut und Dezenz. Noch älter sind die No-Spiele, die ins 14. Jahrhundert und weiter zurück reichen. Es sind Szenen, die, in altjapanischer Sprache aufgeführt, von Musik und Tanz begleitet werden. Etwa: Die Favoritin eines Kaisers ist in eine entfernte Provinz geflohen, um der Eifersucht ihrer Rivalinnen zu entgehen; der Kaiser hat Sehnsucht nach ihr, schickt ihr durch einen Boten einen Brief, sie liest ihn und schickt ihm Antwort. Diese Szene dauert etwa eine Stunde! Hier ist alles noch mehr verdichtet und der Wirklichkeit entrückt; daß z. B. der Bote sich berauscht, wird nur dadurch ausgedrückt, daß die Dienerin der Hauptdarstellerin eine Schale, wie sie für Reiswein verwendet wird, umdreht. Alle Hauptdarsteller tragen Masken (nicht unähnlich denen der Rottweiler Fasnacht), die Nebenfiguren nur dann, wenn sie eine weibliche Person darzustellen haben. Die Musik besteht aus einer schrillen Flöte, einer kleinen, einer mittleren und einer großen Trommel. Nur hier und in einem Shinto-Tempel hörte ich echte altjapanische Musik.

Altjapanische Kultur lernte ich auf Reisen kennen, die ich nach den historischen Stätten von Nara, Kyoto, Nikko, Kamakura machen durfte. Die älteste japanische Religion ist der Shintoismus, nach welcher der Kaiser ein Sohn Gottes ist; diese ausgesprochen männliche, soldatische Religion ist etwa 2200 Jahre alt. Neben ihr besteht seit dem 7. Jahrhundert n. Chr. der Buddhismus; Christen gibt es nur wenige (etwa %), Mohammedaner gar keine. Der Shintoismus hat durch die Ereignisse des Jahres 1945 einen starken Stoß bekommen, der Buddhismus ist zum mindesten in den Städten stark abgeblaßt. Der Tourismus blüht; obwohl der November kein Ferienmonat mehr ist (aber mild und weich wie in Süditalien), gab es Scharen von japanischen Reisegesellschaften, die rudelweise durch die Tempel getrieben wurden und kaum mehr als eine oberflächliche Neugierde zeigten. Nur einmal, vor der Göttin der Barmherzigkeit in Kamakura, sah ich eine betende Frau, Aber wer weiß, was sich hinter diesen undurchdringlichen Mienen verbirgt? Wieviele Bilder Buddhas habe ich gesehen, die natürlich erst Jahrhunderte nach seinem Tod (etwa 480 v. Chr.) geschaffen wurden und alle dasselbe undurchdringliche Lächeln des Wissens und der Selbstbeherrschung zeigen. Aber auch wieviele Parallelen zum Christentum! Da sind die Jünger Buddhas, da ist der heilige Georg, der den Drachen tötet, da ist der Höllenrichter mit Schwert und Waage, hinter ihm holzgeschnitzte lodernde Flammen. Es ist von Bedeutung, daß in den öffentlichen Schulen keine Religion gelehrt wird; es wird lediglich ein Überblick über die großen Weltreligionen und eine Einführung in die indische Philosophie gegeben. Da der Buddhismus keinen Sonntag kennt, nur bestimmte Feste, die an gewisse Tempel gebunden sind, und da am Sonntag wohl die Angestellten und Arbeiter frei haben, aber die selbständigen kleinen Ladeninhaber ihre Geschäfte offenhalten dürfen, da man kein Glockenläuten hört, so ist der Sonntag lediglich ein Ruhetag der Arbeitnehmer. Und was tut der Europäer am Sonntag? Er bleibt zu Hause; denn die Stadt Tokio mit ihren über neun Millionen Einwohnern gestattet nur dem Autofahrer, der ein bis zwei oder mehr Stunden Fahrt nicht scheut, ans Meer oder an den Fuß der Berge zu kommen. Vielleicht ist das mit ein Grund, daß das häusliche Familienleben einen viel größeren Raum einnimmt als bei uns. Die Familien sind intakt, die Mädchen sittsam, die Frauen treu und häuslich (aber seit alters bekannt als eifersüchtig!), die Männer so wie überall; es gibt wenig unglückliche Ehen, wenig Scheidungen, die Mädchen kommen zum Heiraten und werden daraufhin erzogen; eine öffentliche erotische Anreizung durch Illustrierte, durch Schundzeitungen und durch die Mehrzahl der Filme und deren Anpreisung, wie sie uns längst als selbstverständlich erscheint, fehlt fast völlig; alles Erotische gehört ausschließlich der Privatsphäre an, dem behüteten Raum, in den kein anderer hineinschauen soll. Man sieht in Japan auch kein in Lumpen gehülltes, bettelndes Proletariat wie im Vorderen Orient. Lebenshaltung und Löhne sind niedriger als in Europa; ich sah aber nirgends wirkliches Elend. Trinkgelder sind abgeschafft, Bettel gibt es nicht, es gibt ein Jugendschutzgesetz, nach dem junge Mädchen erst von 18 Jahren ab beschäftigt werden dürfen. Und wie groß ist die Höflichkeit (selbst der Autofahrer!). Ich habe in den fünf Wochen nie jemanden schimpfen hören (außer einem deutschen Dirigenten), und diese Höflichkeit ist nicht nur äußerlich, sondern entspricht einem angeborenen Taktgefühl und einer echten Herzlichkeit. So wurde mir der kurze Aufenthalt in Japan nicht nur zu einem musikalischen, sondern noch mehr zu einem menschlich beglückenden Erlebnis, zu einer wirklichen Bereicherung meines Lebens.

Hermann Keller

Quelle:
Musik im Unterricht, Allgemeine Ausgabe
Heft 3, 53. Jahrgang, März 1962