1963 · Konzerteinführungen Kirchenmusiktage
handschriftlich:
In der reichen Folge der Veranstaltungen der Stuttgarter Kirchenmusiktage 1963
Gang durch 200 Jahre altwürttembergische Musikgeschichte Hofmusik und Kirchenmusik
Schreibmaschine:
Altes Schloss und Stiftskirche am 1. November 1963
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wenn Sie ein Schloss oder eine Burg besichtigen, dann führt Sie ein Kastellan. Er hat nicht die Aufgabe, Ihnen einen kunstgeschichtlichen oder gar kulturgeschichtlichen Vortrag zu halten, sondern er soll lediglich einige Angaben über Zeit und Ort machen, und Sie auf ein paar Einzelheiten aufmerksam machen, die Ihnen sonst vielleicht entgehen würden. Bitte betrachten Sie mich als einen solchen musikalischen Kastellan. Die Versuchung wäre gross, ein Bild der Zeit, ihrer städtischen und höfischen Kultur, zu entwerfen und liebevoll auszuführen, - aber dazu fehlt uns die Zeit! Ich will also nur mit einigen wenigen Strichen den Hintergrund zeichnen, auf dem wir uns die Musik zu denken haben, die Sie nun hören sollen.
Noch im 15. Jahrhundert stand Stuttgart, obwohl Residenz der Grafen, später Herzöge von Württemberg an Bedeutung hinter Städten wie Konstanz, Rottweil, Memmingen, Ulm, Esslingen u.a. weit zurück. Um 1500 aber zeugen die 3 spätgotischen Kirchen unserer Stadt (Stifts-, Leonhard-, Hospital-) von der zunehmenden Wohlhabenheit ihrer Einwohner. Auch das Alte Schloss hat seine letzte Vollendung im 16. Jahrhundert erhalten, und erst von dieser Zeit ab haben wir auch Zeugnisse einer eigenen Musikpflege. Von der bürgerlichen um 1500 wissen wir sehr wenig, etwas mehr von der höfischen und kirchlichen. Ein Herzog brauchte Hoftrompeter, die in Offiziersrang standen, und sich hoch über die gewöhnlichen Musiker erhaben dünkten. Er brauchte Sänger und Instrumentalisten, die in der Schlosskapelle die Kirchenmusik versahen. Es war die Zeit, da die Musik der Niederlande ihren höchsten Stand erreicht hatte; niederländische Komponisten, Kapellmeister und Musiker waren in Deutschland wie in Italien hochbegehrt. Der berühmteste, Orlando di Lasso, wirkte über 40 Jahre am Münchner Hof, die Auswirkungen seiner grossen Persönlichkeit erstreckten sich auch auf den Hof in Stuttgart. Aber auch deutsche Meister wurden verpflichtet:
als 1. nennen wir Heinrich Finck, geboren in Bamberg, einen weit gereisten und hochberühmten Meister, der 1510 1513 am Hof in Stuttgart tätig war, und zur Hochzeit des Herzogs eine grosse 6stimmige Messe schrieb. Sein Stil ist konservativ, er kam schon den Zeitgenossen im 16. Jahrhundert als hart, holzgeschnitzt, vor er ist darin Schüler der älteren Niederländer.
Sie hören jetzt einen 4stimmigen lateinischen Hymnus, ein Abendmahlslied, das später Luther verdeutscht hat: "Jesus Christus, unser Heiland".
Die Reformation wurde in unseren Landen nach der Lehre Luthers, aber liturgisch in Anlehnung an die Schweiz durchgeführt, Oberschwaben und einige andere Gebiete blieben katholisch. (Auch die Stiftskirche war nach Vertreibung des Herzogs Ulrich ein paar Jahre lang wieder katholisch). Die Reformation gab der Kirchenmusik in ganz Deutschland einen unerhörten Auftrieb. Die Kirchenlieder, die Luther und sein Kreis dichteten, gehören samt den Melodien zu den grossartigsten Schöpfungen, die wir aus dem 16. Jahrhundert haben. Nach dem Vorbild der reformierten Kirche in der Schweiz wurden die Psalmen in Kirchenlieder umgedichtet und strophisch komponiert. Das berühmteste derartige Psalmlied ist wohl der 46. Psalm, umgedichtet in "Ein feste Burg". Ein Komponist, dessen Lebensdaten nicht näher bekannt sind, Sigmund Hemmel, vertonte liedmässig alle 150 Psalmen in der spätgotischen Art, d.h., die Melodie liegt im Tenor, um den die anderen Stimmen figurieren. Hemmel war 1565 Kapellmeister der Hofkantorei unter Herzog Christoph; für diese vertonte er alle 150 Psalmen. Sie hören Psalmlied zu Psalm 90 und 46, - um wieviel sprachgewaltiger ist das Lutherische gegen das des unbekannten Reimers von Psalm 90!
Auch Herzog Ludwig pflegte die Hofmusik. Unter ihm kam als Kapellmeister Ludwig Daser aus München. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten des Herzogs 1575 ging es hoch her; der Humanist Nikodemus Frischlin hat sie in 7 Büchern gereimt beschrieben.
"Da hörte man die Sängerei
hersingen mit 8 Stimmen frei
ganz lieblich süss, so herrlich' Stück',
dass es das Herz im Leib erquick.
Das Hochzeitslied daher erklang
durch die Pusaunen und das Gsang,
als man da hörte figuriern
und mit der Orgel modulirn.
Am nächsten Tag stimmte vor der Predigt des Hofpredigers Osiander die Kapelle "mit 12 Stimmen frei ein schönes Stück von Ludwig Daser an"
so in der Kunst erfahren gar,
damals Capellmeister war,
der dies Stück, so man figuriert,
auch selber hatte komponiert.
Von Daser hören Sie nun eine Motette über das Lied "Wir glauben all an einen Gott" mit instrumentaler Besetzung der figurierenden Stimmen, die damals sowohl gesungen wie gespielt werden konnten.
Daser war nicht der einzige aus dem Münchner Lassokreis, der nach Stuttgart kam. Nachfolger Dasers wurde der in Belgien geborene Balduin Hoyul, ebenfalls der Lasso-Schule zuzurechnen. Sie hören von Hoyul zwei 3stimmige Choralsätze: über die protestantischen Kirchenlieder "Gelobet seist du" und "Da Jesus an dem Kreuze stund".
Nun begegnen wir einem der grossen Meister der deutschen Musik im 16. Jahrhundert, Leonhard Lechner. Gebürtiger Südtiroler, war er Sängerknabe unter Lasso in München, kam dann über Nürnberg nach Schwaben, wirkte 10 Jahre bei den Grafen von Hohenzollern in Hechingen, dann von 1594 ab bis zu seinem Tod 1606 in Stuttgart. Er ist kein Weltmann wie Lasso, aber ein urwüchsiger, hochbegabter Tonsetzer. Seine Motetten, seine Sprüche von Leben und Tod
werden heute von Hunderten von Singkreisen wieder gesungen.
Sie hören einen 4stimmigen Satz über das mittelalterliche Osterlied "Christ ist erstanden"
Nun hören Sie weltliche und geistliche Musik, die in der Sakristei der Schlosskapelle musiziert wird.
Zunächst einen 4stimmigen Satz, ein Liebeslied, von Heinrich Finck. Auch Lechner hat das weltliche Chorlied ebenso gepflegt und bereichert wie Finck. Aber Sie hören auch den modernen, flüssigen Satz in 50 Jahren hatte sich die Musik im 16. Jahrhundert von Grund auf verändert!
Noch viel einschneidender war die Veränderung in der Komposition und Ausübung der Musik, die um 1600 durch die Einführung des Bc. entstand. Erst damit konnte sich die Instrumentalmusik freier entfalten, die bis dahin im Gefolge der Vokalmusik bescheiden an zweiter Stelle gestanden war; nun aber nimmt sie einen mächtigen Aufschwung, Die beliebteste Form der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ist die Triosonate für 2 Melodie-Instrumente und Bc, (Corelli). Sie hören nun einen Triosatz für Flöte, Oboe, Fagott and Bc. von Joh. Michael Nicolai.
Auch die Kirchenmusik steht nun im 17./18. Jahrhundert völlig unter dem Einfluss des Bc. Der unbegleitete Gesang eines mehrstimmigen Chors verschwindet fast völlig; dafür machen sich die von Oper übernommenen Formen der Arie, des Rez. und anderer Formen auch in der Kirche breit. Man denke an die Passionen and Kantaten von Bach. Große Produktionen, aber Württemberg hatte im 30jährigen Krieg nach der Schlacht von Nördlingen entsetzlich zu leiden. 50 Jahre später kamen die Raubzüge der Franzosen. Das Land blieb nach dem Krieg konfessionell gemischt, weder die Hofmusik noch die Stiftsmusik konnten ihren Rang behaupten, den sie im 16. Jahrhundert eingenommen hatten. Die Hofmusik wendet sich der Oper zu, so ist die Kirchenmusik in Württemberg im 17. und 18. Jahrhundert spärlich. Der herzogliche Hof ist mal katholisch mal protestantisch, all das liess kein rechtes kirchenmusikalisches Leben aufkommen. Immerhin: Störl, Weihnachtskantate!
Stiftskirche
Wir haben soeben im Alten Schloss Beispiele aus 200 Jahren höfischer, geistlicher und weltlicher Musikpflege an uns vorüberziehen lassen. Nun sollen Beispiele von Kantoren und Organisten der Stiftskirche folgen. So wie Altes Schloss und Stiftskirche nachbarlich beisammen stehen und baulich eine harmonische Einheit bilden, so ist es auch mit der Musik. Manche Musiker taten gleichzeitig in der Schlosskapelle und in der Hauptkirche der Stadt, der ehrwürdigen Stiftskirche, ihren Dienst. So Utz Steigleder, der einem alten Organisten-Geschlecht entstammte. Drei Generationen Steigleder haben unserem Land als Organisten und Komponisten gedient: Utz Steigleder, sein Sohn Adam Steigleder und sein Enkel Ulrich Steigleder, der zu den bedeutendsten Musikern Württembergs in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts zählt. Utz St. dient unter drei Herzögen: Ulrich, Christoph und Ludwig. Sie hören von ihm eine 6stimmige Pfingstmotette über die altchristliche Antiphon "Veni, sancte spiritus" (aus d. 10. Jahrhundert).
Der Sohn von Utz St., Adam St., erhielt von Herzog Ludwig ein Stipendium, um 3 Jahre in Rom zu studieren; nach seiner Rückkehr war auch er Stiftsorganist, dann aber Organist der Michaelskirche in Schwäbisch Hall, und schliesslich Münsterorganist in Ulm. Sein Sohn Ulrich ist schon mit 20 Jahren Organist in Lindau, kehrt dann aber nach Stuttgart zurück. Aber schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt an der Stiftskirche bricht der 30jährige Krieg aus. Die Hofkapelle wurde eingeschränkt, dann ganz aufgelöst, die Stiftsmusik war in kläglichem Zustand, und nach der Schlacht bei Nördlingen 1634 brachen furchtbare Heimsuchungen über Württemberg herein. Viele Orte niedergebrannt. Die Stiftskirche wurde den Jesuiten übergeben. In Stuttgart brach die Pest aus, und unter den 4000 Stuttgarter Bürgern die ihr zum Opfer fielen, war auch Ulrich Steigleder. Zu dem wenigen was damals an süddeutscher Orgelmusik gedruckt wurde, gehören zwei Sammlungen, die Steigleder 1624 und 1627 herausgab. 12 Ricercari und 40 Variationen über Luthers Choral "Vater unser im Himmelreich". Sie hören nun die Toccata, mit der Steigleder dies Werk abschliesst, das man füglich den Choral-Variationen seines norddeutschen Zeitgenossen Samuel Scheidt an die Seite setzen darf.
Dass der neue Stil einer konzertierenden Kirchenmusik auch bei uns im Süden gepflegt wurde, zeigen die beiden folgenden geistlichen Konzerte für Solostimmen, Instrumente und Orgel. Das 1. von Phil. Fr. Böddecker aus einer aus Hagenau (Elsass) stammenden Familie. Schon der Vater, Joachim B., war Stiftsmusiker gewesen, Phil. Fr. Böddecker hatte sich als Organist in Strassburg und Frankfurt und als Komponist einen Namen gemacht, als er 1652 an die Stiftskirche als Nachfolger seines Vaters berufen wurde. Er wirkte da 30 Jahre bis zu seinem Tod, aber ein leidiger Streit mit seinem Kollegen Capricornus (Bockshorn) verbitterte ihm und diesem das Leben. Vielen Musikfreunden ist sein Weihnachtskonzert für Sopran und Bc. bekannt; hier hören Sie nun ein geistl. Konzert für Tenor und Bc.
Fünf Jahre nach Böddecker wurde der aus Brünn gebürtige Samuel Capricornus (Bockshorn) als Hofkapellmeister nach Stuttgart verpflichtet. Wenn man Böddecker mit Samuel Scheidt in Halle vergleichen kann, so Capricornus mit den norddeutschen Kantatenkomponisten wie Tunder und Weckmann. In den 20 - 30 Jahren, die er jünger ist als Böddecker, ist die Musik geschmeidiger geworden, dieser Abstand der beiden Stuttgarter Meister ist Zeitstil mehr als Personalstil. Seine Osterkantate auf den Text des 2. Ostfesttags (Gang Jesu nach Emmaus) ist in einem der schönsten Kirchenlieder dieser Zeit eingefangen, und von Capricornus für 2 Singstimmen (Sopran and Alt) und Viola und Bc. komponiert.
Wenn die bis jetzt genannten Tonsetzer doch mehr der lokalen als der allgemeinen Musikgeschichte angehören, so haben wir in Johann Pachelbel einen der grossen Vorläufer Bachs. Freilich gehört er nur am Rand der württembergischen Musikgeschichte an, er ist in Nürnberg geboren und gestorben, war aber zwei Jahre von 1690 - 92 Organist der Schlosskapelle in Stuttgart. Vor- und nachher wirkte er in Thüringen - in Eisenach, Gotha und Erfurt. Von dort aus hat er auf Johann Sebastian Bach einen bestimmenden Einfluss ausgeübt. Sie hören von ihm ein klangprächtiges Präludium in d moll und einen Orgelchoral "Allein Gott in der Höh sei Ehr".
Zum Schluss unserer "Kleinen Kirchen-Musikgeschichte in Beispielen" hören Sie einen schlichten 4stimmigen Choralsatz von Lukas Osiander, der in Stuttgart als Hofprediger wirkte. Er war einer jener musikalisch hochgebildeten Theologen, wie sie das Luthertum von Anfang bis heute so vielfach hervorgebracht hat. Er gab 1586 50 Choräle im einfachen 4stimmigen Satz, die Melodie im Sopran, heraus, "so dass eine ganze christliche Gemeinde daraus mitsingen könne".
Das war eine Tat von geschichtlicher Bedeutung: der einfache Choralsatz, 4stimmig, dessen Oberstimme die Gemeinde singt, war damit begründet, die alte Technik, c.f. im Tenor, kunstvoll umspielt von den anderen Stimmen, damit endgültig überwunden. Darauf hat die ev. Kirche, die Kirche des Worts ihren Gemeindegesang gegründet, und diese Technik bis heute beibehalten, Das war in hohem Sinne ev. und musikalisch zugleich.
Quelle:
Schreibmaschinen-Manuskript