1963 · Bemerkungen zu Mozarts d-Moll-Fantasie

Musik im Unterricht

Zu den Werken Mozarts, die im Klavierunterricht am häufigsten gespielt und am häufigsten schlecht gespielt werden, gehört ein Kleinod der Musik, die Fantasie d-Moll (KV 397 bzw. 385g). Man pflegt sie auf der sogenannten Mittelstufe spielen zu lassen und oft genug von Schülern, denen der seelische Gehalt dieses wunderbaren Stücks noch verschlossen ist; manchmal hat es leider den Anschein, als sei er auch dem Lehrer oder der Lehrerin verschlossen geblieben. Zusammen mit dem a-Moll-Rondo (KV 511) und der großen Fantasie in c-Moll (KV 475) gehört sie zu den bedeutendsten Klavierwerken Mozarts. Sie sollte nicht Durchschnitts-Schülern in die Hand gegeben werden; denn wer keine Idee von dem hat, was das Werk ausdrückt, kann es auch nicht spielen, selbst wenn er das technische Rüstzeug dazu hat.

Das Autograph ist seit langem verschollen; man muß sich also auf die Korrektheit der Erstausgabe verlassen, die erst dreizehn Jahre nach Mozarts Tod im Jahr 1804 erschien. Als Entstehungszeit des Werkes wird allgemein das Jahr 1782 angenommen, das Jahr, in dem Mozart anfing, sich ernsthaft mit der Kunst von Johann Sebastian und Philipp Emanuel Bach zu beschäftigen. Die freie Phantasie war das Gebiet, auf dem Philipp Emanuel als Meister galt. In Verbindung mit dem Dichter Gerstenberg in Hamburg, der einigen Werken Ph. Em. Bachs Worte unterlegte, versuchte er, in seinen Fantasien die Musik von dem Zwang hergebrachter Formen zu befreien, sie unmittelbarer sprechen zu lassen. Das bedeutete Freiheit von der Tyrannei des Taktstrichs, des gleichmäßig durchgehaltenen Zeitmaßes, Unterbrechung des Flusses durch sprechende Pausen, jähen Umschlag der Stimmung u.a.m. Man darf sagen, daß diese Kompositionen noch heute von den Spielern in ihrer besonderen Art nicht immer richtig verstanden und daher auch nur selten öffentlich vorgetragen werden, wobei sie meist nicht "ankommen", eher Befremden auslösen.

Als Mozart diesen Stil kennenlernte, war er als der größte Formkünstler seiner Zeit schon so gefestigt, daß ihn dieser revolutionäre Stil nicht mehr umwerfen konnte; er hat aber seinem Stil eine Freiheit gegeben, die seine früheren Klavierwerke nicht aufweisen. Formlos - ja noch formloser als Ph. Em. Bach - ist eine Fantasie in C-Dur (KV 395 = 300g), 1778 in Paris komponiert. Dies sollte aber auch keine richtige Komposition sein, sondern, wie Mozart an Nannerl schreibt, "nur so ein Capriccio - um das Clavier zu probiren". Mehr ist es in der Tat nicht und wird daher auch fast nie gespielt. Formal gefestigter ist die Fantasie C-Dur mit Fuge (KV 394 = 383a); die (nach meiner Meinung recht langweilige und steife) Fuge schrieb er auf Bitte von Constanze: "Baron van Swieten, zu dem ich alle Sonntage gehe, hat mir alle Werke des Händel und Sebastian Bach nach Hause gegeben. Als die Konstanze die Fuge hörte, ward sie ganz verliebt darein ... und gab mit Bitten nicht nach, bis ich ihr eine Fuge aufsetzte" (die Fantasie wurde erst später dazukomponiert). Der Abstand dieser beiden C-Dur-Fantasien und unserer d-Moll-Fantasie ist so groß, daß man für die d-Moll-Fantasie ine spätere Entstehung annehmen und sie neben die große c-Moll-Fantasie stellen möchte. Der Leser wird nunmehr gebeten, eine Urtext-Ausgabe der Klavierstücke Mozarts (die er hoffentlich besitzt) zur Hand zu nehmen, anhand derer wir einen Gang durch das Werk antreten wollen.

Die ersten elf Takte sind nur Einleitung, eine Improvisation, um sich in Stimmung zu versetzen; man lege daher nicht zu viel Ausdruck hinein, das Tempo ist Andante, also nicht so langsam wie das folgende Adagio. Doch zeichnen sich in den Takten 7-9 schon Konturen der Adagio-Melodie ab: g - f - e - d - / - cis. Nach dem Brauch der Zeit kann man die Finger der linken Hand liegen lassen; ich lasse auch in T. 9 den A-Dur-Akkord fortklingen, damit die auf- und absteigende Figur der rechten Hand nicht so leer im Raume steht. Die Fermate auf A muß bis zum Verklingen des Tons gehalten werden (wie oft wird sie einfach überspielt!). Und nun folgt ein "klagender Gesang" (wie Beethoven das Arioso in op. 110 überschrieben hat), wie eine von Streichern begleitete Melodie der Oboe. Von großer Wichtigkeit ist der "Abzug" in T. 13, 15 und 18: die zweite Note ist schwächer und wird auf die Hälfte verkürzt. Die Triolen in T. 17 alle mit dem 3. Finger, während die linke Hand streng bindet. In T. 19 verflüchtigt sich der Gedanke (pp). Der drohende Gedanke, der nun folgt - mit seinen schwer pochenden Achteln und seiner Chromatik eine Vorahnung der Komturszenen aus Don Giovanni -, muß groß, unerbittlich, fest im Zeitmaß mit dichten Achteln (ohne Fingerwechsel) gespielt werden. Die Antwort darauf (T. 23 - 26) ängstlich, erschreckend: man sehe Mozarts genaue Bezeichnung des zweimaligen Crescendos. Das zweite endet in einer Luftpause, dem Fermatentakt, der nicht genau ausgehalten werden soll, nur einen tiefen Atemzug lang. Wieder setzt die klagende Melodie ein, steigert ihren Ausdruck (bei der Steigerung mag man ein Stringendo anbringen); der leidenschaftlich wilde Lauf durch die ganze Klaviatur hinunter und herauf ist ein Versuch, die quälenden Gedanken zu vertreiben. Wieder eine Fermate über der letzten Achtelpause, ehe sich das Spiel wiederholt, und die Steigerung diesmal bis zum höchsten Ton der damaligen Klaviere (f3) geführt wird. Wieder ein verzweifelter Lauf über das ganze Klavier, noch leidenschaftlicher als der erste; der Verfasser verteilt ihn auf beide Hände, um mehr Kraft zu haben:

Den chromatischen Lauf nach oben mag man allmählich verlangsamen und ins Piano zurückführen. Zum dritten Male hebt das Arioso dolente an, verflüchtigt sich wie beim ersten Male, der scharfe Akzent der neapolitanischen Sexte (das Forte-Zeichen gilt nur der rechten Hand), dann der aufwärts stürmende verminderte Septakkord, der die letzten Wolken verscheucht, zwei kurze - quasi pizzicato aufzufassende - Akkorde, vor und nach ihnen Fermaten, deren Dauer genau bedacht werden muß, und die Melancholie ist verflogen, grundlos, wie sie gekommen war. "Was ich traure, weiß ich nicht, es ist unbekanntes Wehe" hat ein Mozart tief verwandter Dichter gesagt.

Beethoven hat zu Schindler über das Largo e mesto seiner Sonate op. 10 Nr. 3 geäußert, er habe darin "den Seelenzustand eines Melancholischen mit all den verschiedenen Nuancierungen von Licht und Schatten im Bilde der Melancholie und ihrer Phasen" ausdrücken wollen. Das trifft genau ebenso auch auf die in gleicher Tonart stehende Fantasie Mozarts zu (man mag auch an das Largo assai ed espressivo des Trios op. 70 Nr. 1 denken, ebenfalls in d-Moll, das dem Trio die Bezeichnung "Geistertrio" eingetragen hat). Auch Mozart schildert die Melancholie in all ihren Phasen, freilich ist sie nicht so abgrundtief wie bei Beethoven, sie löst sich in ein liebliches Allegretto, dessen Thema Mozart mit "dolce" bezeichnet hat (ein bei ihm noch sehr seltenes Beiwort).

Aber wie oft wird dieses Allegretto selbst von großen Künstlern mißverstanden und als ein fröhliches, unbeschwertes Allegro, ja brillant als Allegro con brio aufgefaßt! Nach allem bisher Gesagten ist klar, daß Mozart wußte, warum er Allegretto und nicht Allegro schrieb und warum er den Dur-Teil mit dolce kennzeichnete: es ist, wie wenn nach einem Regentag abends die Sonne durchbricht, ein Lächeln unter Tränen. Erst im Fermatentakt befreit sich der Komponist endgültig von allem, was hinter ihm liegt, der Lauf nach oben darf daher nicht etüdenmäßig, er muß überschwenglich gespielt werden; der lange Triller ist ein Ausdruckstriller (mit cresc. und dim. und einem ausgeschriebenen Ritardando des Auslaufs, das nicht übertrieben werden soll). Und nun erfordert die Coda noch einmal alle Delikatesse des Spielers. Er darf das Tempo nicht beschleunigen, die Forte-Stellen dürfen nicht zu massig klingen, erst die letzten vier Akkorde sind ff (eine ebenfalls bei Mozart in seiner Klaviermusik seltene Vorschrift), sie müssen noch mit ganzer Konzentration gespielt werden.

Diejenigen Leser, die derartige Einführungen, wie ich sie hier gegeben habe, nicht lieben und nicht nötig haben, mögen mir verzeihen. Ich habe für die anderen geschrieben.

Quelle:
Acta Mozartina. Mitteilungen der deutschen Mozart-Gesellschaft e.V., Zehnter Jahrgang 1963, Heft 4
sowie:
Musik im Unterricht, Juli/August 1963