1964 · Die Chaconne g-Moll von - Vitali?
Neue Zeitschrift für Musik
Zu den berühmtesten und großartigsten Violinwerken des 18. Jahrhunderts gehört die Chaconne in g-Moll von Tommaso Vitali, die Ferdinand David in seiner Hohen Schule des Violinspiels mitgeteilt hat, ein Werk, das in der Größe der Konzeption und der Ausnutzung aller Mittel der Violintechnik nur noch mit der Chaconne für Violine allein von Bach verglichen werden kann. Es ist oft nachgedruckt worden, Respighi hat die Klavierbegleitung Davids sogar für Orchester übertragen, aber die Frage nach dem Original ist bis heute unbeantwortet geblieben. Die Stimmen mehrten sich, die annahmen, David habe das Werk doch wohl recht frei bearbeitet, eine Frage, die nur beantwortet werden könnte, wenn man Davids "Bearbeitung" mit dem Original vorfinden könnte. Alle derartigen Bemühungen sind aber erfolglos geblieben. Wer war denn Tommaso Vitali, der dieses außerordentliche Werk geschrieben haben soll? Als Sohn des Komponisten Giovanni Battista Vitali gegen 1665 geboren, wurde er "der kleine Vitali" (il Vitalino) genannt; man kennt einige Kammermusikwerke von ihm, die um 1700 komponiert wurden. Er war also einer der vielen kleinen Sterne am Musikhimmel Italiens - und er sollte der Komponist eines Werkes sein, das, wenn es wirklich von ihm sein sollte, die ganze übrige Literatur der Zeit in den Schatten stellen würde? Als meine eigenen Nachforschungen keinen Erfolg hatten, wandte ich mich an Dr. John G. Suess, Professor an der Ohio University in USA, der als Bearbeiter des Artikels "Vitali" in MGG auch vergeblich nach einem Original gesucht hatte und der mir schrieb: "Perhaps it was a product of Ferdinand David's imagination?" Diese Bemerkung gab mir blitzartig die Lösung: die Chaconne ist gar kein Werk von T. Vitali, sie ist im 19. Jahrhundert wahrscheinlich von David selbst nach dem Vorbild der Chaconne von Bach komponiert worden.
Es gibt eine mathematische Methode, ein hypothetisches Resultat zunächst als gesichert anzusehen und auf Grund dessen die ganze Rechnung durchzurechnen, wenn sie dann aufgeht, war die Annahme richtig. So möchte ich auch hier verfahren und zunächst darlegen, daß die Chaconne unmöglich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sein kann. Zwar benützt sie wie Bach das von den Komponisten der Generalbaßzeit am häufigsten gebrauchte Thema, das absteigende Tetrachord in Moll (g - f - es - d); auch daß sie ein Kopfthema über diesem Baß bildet, das am Schluß und in der Mitte des Satzes wiederkehrt, hat sie mit Bach und anderen Chaconnen der Zeit gemeinsam - sonst aber nichts. Auch in ihrer Anlage ist sie der Chaconne von Bach nachgebildet (die der "kleine Vitali" unmöglich gekannt haben kann); Bachs Chaconne besteht aus 64 Variationen des Modells, die meist (aber nicht immer) zu Doppelvariationen zusammengefaßt werden, die g-Moll-Chaconne des angeblichen Vitali hat 56 Variationen. Während aber Bach in der Tonart bleibt und nur von Moll nach Dur wechselt, haben wir bei "Vitali" folgenden Tonartenplan: Var. 1 - 8 steht in g-Moll mit Modulation nach b-Moll (!), nach 5 Variationen ist man in f-Moll, dann wieder in g-Moll, worauf 7 Variationen in a-Moll (!) folgen, wieder 5 in g-Moll, dann Es-Dur und es-Moll mit 5 Variationen bedacht werden, worauf die letzten 18 Variationen wieder in g-Moll stehen. Welcher Komponist des 18. Jahrhunderts hätte gewagt, einen solchen Tonartenplan einer Chaconne zugrunde zu legen? Noch weiter entfernt sich die Harmonik des Stücks von der Generalbaßharmonik. Da ist Var. 33 (T. 133 - 138 - einige der Variationen sind nicht vier-, sondern fünftaktig). In ihr gibt es eine Rückung von g-Moll nach A-Dur, weiter nach H-Dur, nach cis-Moll und von da nach Es-Dur! Das sind Kühnheiten, die sich im 18. Jahrhundert nirgends, auch noch nicht bei Beethoven finden; oder in Var. 50 (T. 202 - 205) eine Harmonienfolge g-Moll - b-Moll - es-Moll - Ces-Dur - g-Moll, von der man annehmen möchte, daß sie ohne Berlioz und Liszt kaum geschrieben worden wäre. Und die Violinstimme? Sie ist so im modernen Sinne konzertant, daß sie nur ein Komponist schreiben konnte, der Bachs Solosonaten genau kannte, selbst ein hervorragender Geiger war und romantische Stilelemente in ein pseudobarockes Gewand kleiden konnte. Es ist ein einzigartiges Stilgemisch, diese Chaconne, sie hat einen Farbenreichtum, den kein Werk der Barockzeit aufweist, auch Bachs Solosonaten nicht. Wer sie unbefangen hört, ist von ihr hingerissen, wer kritisch hört "das soll das Werk eines italienischen Komponisten um 1700 sein?!", der empfindet neben der Bewunderung für den hinreißenden Schwung des Werks ein Mißbehagen, das nur allzu berechtigt ist. Noch etwas kommt dazu: die Klavierbegleitung. Daß sie nicht generalbaßmäßig ist, sieht man auf den ersten Blick, aber David hat ja in seiner Hohen Schule die alte Musik sehr großzügig in romantischem Sinne umstilisiert, warum nicht auch hier? Vielleicht, wenn man eine stilechtere zurückhaltendere Begleitung schaffen würde, würde der Eindruck eines Stilgemengsels gemildert? Léopold Charlier (Brüssel) hat versucht, die Klavierstimme zu verbessern (Ed. Breitkopf Nr. 5403), in Wirklichkeit hat er sie noch mehr romantisiert, indem er z.B. den Chaconnenbaß vom Klavier einstimmig pp vorausspielen ließ; die Notiz in Mosers Musiklexikon, Charlier habe die Chaconne "originalgetreu bearbeitet" (!), ist also irreführend. Nein, die Klavierstimme Davids ist keine noch so freie Aussetzung eines Generalbasses, sondern ein Teil der Komposition und von der Violinstimme nicht zu trennen; das merkt man sofort, wenn man den aussichtslosen Versuch macht, eine dem Stil des Barock gemäße Aussetzung des vermeintlichen Generalbasses zu entwerfen. Sobald man die Klavierstimme nicht mehr als eine Generalbaß-Aussetzung ansieht, kann man sie freimütig bewundern. Wieviel Phantasie, wieviel rhythmische, motivische und klangliche Abwechslung ist in ihr enthalten!
So lösen sich also alle Fragen und Zweifel, die man diesem weltberühmten Werk gegenüber aufbringt mit einem Schlag, wenn man die eingangs aufgestellte Hypothese zur Wahrscheinlichkeit erhebt: daß die Chaconne etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts und wahrscheinlich von Ferdinand David selbst komponiert worden ist. Aber warum dann diese Mystifikation? Warum gab David diese Komposition nicht unter seinem eigenen Namen heraus? Auch darauf läßt sich eine Antwort finden. Der Komponist David war recht unbedeutend, aber er besaß eine große Kenntnis der Violinmusik des 18. Jahrhunderts. Ein im alten Stil geschriebenes Werk hätte ihm niemand geglaubt, wenn er es unter seinem Namen herausgegeben hätte. Er wählte als Decknamen den eines verhältnismäßig wenig bekannten italienischen Komponisten, der auf diese Weise den unverdienten Ruhm erlangte, ein Werk geschrieben zu haben, das, wenn echt, die Stilmittel der Zeit so weit überschreiten und in die Zukunft weisen würde, daß man um dieses einen Werks willen T. Vitali zu den ganz Großen zählen müßte. Daß diese Annahme unmöglich ist, glaube ich, in den vorstehenden Ausführungen gezeigt zu haben. Wir haben also, wenn die Vermutung zutrifft, in David einen Vorläufer von Siegfried Ochs und Fritz Kreisler vor uns. Bekanntlich hat Siegfried Ochs das Arioso "Dank sei dir, Herr" in dem Oratorium "Israel in Ägypten" so täuschend im Stil dem "Largo" von Händel nachkomponiert, daß niemand an der Echtheit dieses nachträglich eingeschobenen Arioso zweifeln konnte, und noch näher steht David dem großen Geiger Kreisler, der das "Präludium und Allegro" in e-Moll von Gaetano Pugnani ja auch nicht herausgegeben und bearbeitet, sondern selbst komponiert hat, und dazu wie David den Decknamen eines wenig bekannten Komponisten des 18. Jahrhunderts gewählt hat. In beiden Fällen haben die Pseudoherausgeber nicht den Stil des vorgeschützten Komponisten, sondern den eines Größeren nachgeahmt, nämlich Johann Sebastian Bach. Kreislers Präludium ist dem ersten Satz der Sonate e-Moll für Violine und bezifferten Baß von Bach nachkomponiert, Davids Chaconne der Chaconne in d-Moll. Daß Kreisler sich enger an den Stil der Generalbaßzeit hält, liegt daran, daß er seine Komposition fünfzig Jahre später als David geschaffen hat, zu einer Zeit, in der man vom Stil der Bachzeit genauere Vorstellungen hatte als um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Soll man nun darum Kreisler weniger spielen und bewundern, weil das Wort "Pugnani" mit Bindestrich wegfällt, soll man Davids Chaconne weniger hoch schätzen, wenn der Name Vitali wegfällt? Ich meine nicht. Beide Werke sind mehr als nur Stilkopien; der Komponist bedient sich solch alter Formen und Ausdrucksweisen, etwa so, wie Thomas Mann im Dr. Faustus seine Hauptpersonen in altertümlicher Sprache reden läßt, darüber steht aber die schöpferische Phantasie des Komponisten, der in dieser Verbindung Werke schaffen konnte, die ihm ohne diese nicht gelungen wäre.
Quelle:
Neue Zeitschrift für Musik, April 1964
Schott Music, Mainz