1964 · Gedächtnisfeier für Paul Hindemith

Rede in der Musikhochschule Stuttgart

Der Tod hat im Jahr 1963 unter den Großen dieser Erde eine reiche Ernte gehalten. Ganz am Schluß hat er noch einen Großen der Musik abberufen: Paul Hindemith. Seinem Andenken wollen wir diese Stunde weihen.

In dem großen Umbruch, den die Musik in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erlebte, waren vier Männer führend: Der Russe Igor Strawinsky, der Ungar Bela Bartok, der Österreicher Arnold Schönberg und der Deutsche Paul Hindemith. Mit seinem Namen ist ein ganzes Stück deutscher und europäischer Musikgeschichte verknüpft.

Er wurde 1895 in Hanau bei Frankfurt geboren. Seit seinem 9. Lebensjahr hatte er ausgezeichneten Musikunterricht: in Geige bei Anna Hegner und Adolf Rebner, in Komposition bei Arnold Mendelssohn und Bernhard Sekles in Frankfurt. Schon mit 20 Jahren wird Hindemith Konzertmeister am Frankfurter Opernhaus, 1919 gibt er seinen ersten Kompositionsabend, von 1921 bis 1926 ist er einer der führenden Musiker bei den Musiktagen in Donaueschingen, 1927 wird er als Kompositionslehrer an die staatliche Hochschule für Musik in Berlin berufen. Dann aber wird dieser steile, geradlinige Aufstieg durch die Kulturpolitik des 3. Reiches zum Stehen gebracht: Göbbels erklärt seine Kompositionen als entartet, ihre Aufführung als unerwünscht, er beläßt Hindemith als Lehrer. Aber dieser wendet sich nun ganz dem Ausland zu, er geht nach Ankara, verlegt seinen Wohnsitz in die Schweiz und geht im 1. Kriegsjahr nach den USA. Dort ist er 13 Jahre Lehrer an der Yale-Universität und Hochschule für Musik in New Haven. Nach dem Krieg zieht es ihn aber wieder nach Europa zurück, er nimmt eine Professur an der Universität in Zürich an, widmete aber die letzten Jahre ganz seinem vielseitigen Schaffen. Ein plötzliches Unwohlsein führte am 28. Dezember in wenigen Stunden seinen Tod herbei.

Wie reich ist dieses Leben gewesen! Hindemith war Komponist, ausübender Künstler, ein begnadeter Lehrer, Schriftsteller und Denker in einer großartigen Universalität. Schon als Komponist war er von erstaunlicher Vielseitigkeit: er hat alle Gebiete der Musik, instrumentale und vokale, absolute Musik und die Oper und das Ballett mit Schöpfungen bedacht, und wieviele Anregungen konnte er seinen Schülern, denen er auch menschlich nahestand, geben. Als ausübender Musiker ging er in späteren Jahren von der Geige und Bratsche zum Dirigenten über. Als solchen haben wir ihn in Stuttgart öfters, zuletzt vor einem Jahr, erleben dürfen.

Als Musikdramatiker hat er sich das Textbuch zu seiner Oper "Mathis der Maler" selbst geschrieben, wie das Pfitzner bei seinem "Palestrina" getan hatte. Aber darüberhinaus hat er seine Gedanken über die Musik und das Handwerk des Musikers in bedeutenden Lehrwerken niedergelegt, von denen vor allem die "Unterweisung im Tonsatz" genannt sei. 1950 hielt er beim Bachfest in Hamburg die Rede, - es war unter den vielen, allzuvielen Festreden, die da im Bachjahr gehalten wurden, die weitaus bedeutendste, und in Amerika hat er in seinem Buch "A Composers World", das er auch ins Deutsche übersetzte, ein Glaubensbekenntnis abgelegt. Man hat oft von der Einseitigkeit der Musiker gesprochen, Hindemith ist das Gegenbeispiel davon. Der junge Stürmer und Avantgardist ist in seinem Alter Philosoph geworden, eine Entwicklung, die manche der Jungen nicht verstehen konnten oder wollten.

Wie alle noch im 19. Jahrhundert geborenen Komponisten ist er in der Tradition der klassisch-romantischen Musik aufgewachsen und erzogen worden. Die altklassische vermochte ihm Arnold Mendelssohn zu vermitteln, die spätromantische Bernhard Sekles. Aber er brach bald aus diesem fest umfriedeten Bezirk aus. Der 1. Weltkrieg hatte die Menschen tief erschüttert und den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts gründlich zerstört.

Der Zusammenbruch im November 1918 wurde viel stärker empfunden als der von 1945. Am Ende des 2. Weltkriegs hatte man das Gefühl, daß das nun eingetreten sei, was kommen mußte, am Ende des 1. stürzte eine ganze Welt ein. Die "Welt", das war die Kultur, Moral und Geistigkeit des 19. Jahrhunderts, die man für diesen furchtbaren Krieg verantwortlich machte. Musikalisch gesehen bedeutete das, daß man sich auch von der Musik des 19. Jahrhunderts schroff abwandte: ein Teil der Jugend, besonders der aus der Jugendbewegung hervorgegangene, suchte festere Fundamente und fand sie in der alten Musik.

Die Wiederbelebung der Musik der Bach-Zeit, und des a-capella-Zeitalters setzte mit der Singbewegung ein, die Orgelbewegung und die liturgische Bewegung folgten. Ein anderer kleinerer, wagemutiger Teil wandte sich von der Musik des 19. Jahrhunderts, d.h. von der klassisch-romantischen Musik nach vorwärts und suchte Neuland. Schon die Ausläufer der Spätromantik - und die Impressionisten hatten den Auflösungsprozess der Tonalität begonnen, nun aber wurde er mit einer schroffen Abwendung von den bis dahin gültigen Gesetzen vollzogen. Auch dafür gab es schon Anzeichen vor dem Krieg, die völlig und grundsätzlich atonalen Werke von Schönberg, seine Klavierstücke op. 11, seine Orchesterstücke op. 16. Nun aber, um 1920, ist es, als ob in eine feste Mauer eine Bresche geschlagen würde, und junge Kämpfer nach allen Richtungen hinausstürmen. Einer der vordersten war Hindemith. In seinen Sturm- und Drang-Jahren gebärdete er sich oft als "Bürgerschreck, "épater le bourgeois" -, die Suite 1922, und Anderes... Dann aber, etwa zur selben Zeit, in der sich in der bildenden Kunst die "Neue Sachlichkeit" durchsetzt, um 1928, beginnt auch Hindemiths Stil sich zu festigen. Er schreibt in Berlin Sonaten für Klavier 2- und 4-händig,, für Orgel, für Kammermusikbesetzung, schreibt für das Theater seine Oper "Cardillac". Es waren, wie man heute sagt, "die goldenen zwanziger Jahre", es war die Zeit, da Berlin neben Paris die führende Musikstadt der Welt war. Durch das Naziverbot wird Hindemith aus seiner Bahn geworfen. Zunächst bereichern die Anregungen, die ihm aus dem Ausland zuströmen, sein Schaffen: noch in Berlin entsteht seine große Oper "Mathis der Maler", ein Stoff aus dem Leben des Matthias Grünewald, stilistisch eine direkte Fortsetzung von Pfitzners Palestrina. Zehn Jahre vorher hatten seine 3 Einakter bei ihrer Uraufführung in Stuttgart einen Skandal hervorgerufen, der aber viel weniger der Musik, als den Texten zuzuschreiben war. (Was hätten die Theaterbesucher von damals wohl gesagt oder getan, wenn ihnen "Wer hat Angst vor ..." vorgesetzt worden wäre?!). Mit der Übersiedlung nach Amerika aber fließt die Erfindung langsamer. Er ist nun hauptsächlich Lehrer, und wird in Amerika auch hauptsächlich so eingeschätzt. Seine berühmte "Unterweisung im Tonsatz" hatte er schon 1937 als Frucht seiner Berliner Unterrichtsjahre herausgegeben. 1939 folgte das Übungsbuch im 2-st. Satz; in Amerika schrieb er für seine dortigen Schüler in Englisch seine "Traditionelle Harmonielehre". Der Grundzug dieser Lehrwerke, aus denen seine Anschauung über Musik spricht, ist der, daß er nicht wie Schönberg völlig Neues bringen will, sondern die ewigen naturgegebenen Grundlagen der Musik anerkennt, auf ihnen baut, aber weit über die Grenzen der tonalen Harmonik verstößt. Die Obertonreihe, der aus ihr sich ergebende Durdreiklang sind für ihn ewige Naturgesetze, die wir nicht umstoßen können. Aber er wendet sich scharf gegen "die Menge der täglich anfallenden Musik, in der alles Andere komponiert als der Komponist: die Erinnerung, die billige Zusammenstellung, die Gedankenträgheit, die Gewohnheit, die Nachäffung und am allermeisten der Eigenwille der Töne." Wir nannten zu Anfang vier große Komponisten, die als Klassiker der Neuen Musik gelten können: Strawinsky, Bartok, Hindemith, Schönberg - alle sind im 19. Jahrhundert geboren und mit dessen Traditionen aufgewachsen, nur einer von ihnen lebt heute noch, der 81-jährige Strawinsky. Die ersten drei sind "Synoptiker", - so viel sie auch trennen mag, sie haben das Reich der Musik erweitert, neue Gebiete erschlossen, aber sie haben die ewigen Gesetze, die Grundlagen, nicht anzutasten, nicht umzuwerfen versucht. Das hat nur A. Schönberg versucht, und er mußte als neue Gesetzestafeln die "Methode, mit 12 Tönen zu komponieren" aufstellen, die von den meisten der jüngeren Komponisten anerkannt worden ist, aber weder von Strawinsky, noch von Bartok, noch von Hindemith. Ja Hindemith hat sogar in seiner Neufassung seines "Marienlebens" im Vorwort bewußt einen Schritt zurück getan, den ihm viele junge Neutöner sehr übel vermerkt haben. Weder Strawinsky, noch Bartok haben eine solche Wendung vollzogen, wohl aber Prokofieff nach seiner Rückkehr nach Russland. Man mag dabei an ein Wort denken, das, auf die Musik übertragen, so heißt: wer mit 20 Jahren nicht revolutionär ist, hat keinen Mut, wer mit 60 Jahren nicht konservativ ist, hat keinen Verstand. Besonders scharf hat sich bekanntlich Hindemith über die Auswüchse der sogenannten seriellen Musik ausgesprochen. So ist er vom Dichter immer mehr zum Denker geworden. Vergessen wir über aller Bewunderung der Universalität Hindemiths aber nicht, daß er vor allem Komponist, Tonsetzer in der höchsten Bedeutung des Wortes gewesen ist. Unsere Zeit ist so schnell-lebig, daß bis heute nur ein kleinerer Teil seines Lebenswerks Besitz der Nation geworden ist. Er ist - zusammen mit Strawinsky und Bartok - wirklich ein Klassiker der Neuen Musik. Es ist unsere Pflicht - nicht ihm gegenüber, sondern der deutschen Musik gegenüber -, sein Werk zu sichten und in Besitz zu nehmen.

Quelle:
Rede in der Musikhochschule Stuttgart, 18.1.1964