1965 · Vergessene Traditionen

Musica

Welchen Musiker und Musikfreund würde das Thema von Fritz Rothschild "Vergessene Traditionen in der Musik, zur Aufführungspraxis von Bach bis Beethoven" (Atlantis-Verlag, Freiburg 1964) nicht brennend interessieren! Mit welchen Erwartungen nimmt man dieses Buch zur Hand, das die Zusammenfassung und vom Autor besorgte Übersetzung zweier in England erschienener Arbeiten (von 1953 und 1961) darstellt, aber wie wird man enttäuscht! Der Wissenschaftler wird enttäuscht, weil der Verfasser wohl eine ganze Anzahl älterer Werke gelesen hat, aber das, was besonders in Deutschland in den letzten Jahrzehnten darüber erschienen (und diskutiert worden) ist, offenbar überhaupt nicht kennt, so daß er in vielen Fällen offene Türen einstößt, der praktische Musiker wird enttäuscht, weil Rothschild aus seinen Studien Schlüsse zieht, denen man mit dem besten Willen nicht zustimmen kann. Der erste Teil handelt von Betonung und Zeitmaß von Bach bis Beethoven. Bei Bach werden nur "die guten" Noten (oder auch Taktteile)" betont (S. 15). "Man hielt die erste Hälfte des betonten (guten) Taktteils ein wenig länger, als ihr Wert es erforderte, und spielte die folgende (oder folgenden), zum selben Taktteil gehörende Note (oder Noten) ein wenig schneller." Wo steht das, und wo kämen wir hin, wenn unsere Schüler das befolgen wollten? Für das Tempo ist nach Rothschild die Taktvorzeichnung maßgebend. Sind im C-Takt Sechzehntel die kleinsten Werte, so liegen die Grenzen des Tempos zwischen Viertel = 40 60. Das würde unser ganzes Bachspiel revolutionieren. Der Verfasser gibt einige Beispiele: Das c-moll-Präludium im Wohltemperierten Klavier I hat als Tempo Viertel = 40 56, ebenso das C-dur-Präludium, die Dur-Fuge II Halbe = 40 60, das d-moll-Präludium ebenda Viertel = 60. Und das bei Bach, der nach dem Nekrolog das Tempo "gewöhnlich sehr lebhaft nahm"! Bach ist eben für den Verfasser Traditionsmusiker; nach ihm gibt es einen doppelten Stilwandel, zum galanten und zum Wiener klassischen Stil. Aber auch da gilt noch das Gesetz der Betonung guter Taktteile. In den zwei Einleitungstakten der Pauke im Violinkonzert von Beethoven muß der Pauker je das erste und dritte Viertel etwas betonen! So sei es zur Zeit Beethovens ausgeführt worden, sagt der Verfasser. Der zweite Teil der Arbeit bietet ein etwas freundlicheres Bild. Aber auch hier ist man erstaunt, wenn er über die staccato-Zeichen bei Mozart spricht, aber die Preisaufgabe der Gesellschaft für Musikforschung zu diesem Problem überhaupt nicht kennt, daß er zwischen Phrasierung und Artikulation keinen Unterschied macht, daß er gegen längst überholte Klassiker-Ausgaben zu Felde zieht. Zum Schluß werden Beethovens Metronomisierungen eingehend angeführt, aber ohne jede kritische Stellungnahme zu Metronomisierungen, die teils sinnlos, teils unausführbar sind (Hammerklaviersonate, 1. Satz Halbe = 138, Quartett op. 95, 1. Satz Halbe = 92). Doch enthält das Buch zahlreiche Zitate älterer Theoretiker, die man immer wieder gerne liest, und versöhnt durch seinen Eifer, der Musik zu dienen. Aber ist damit der Musik gedient?
Hermann Keller


Quelle:
Musica 19 (1965) 5, S. 281 282