1966 · Ein Erlebnis aus m. Leipziger Studienzeit

Festschrift der Hochschule für Musik Leipzig

Ich hatte in Stuttgart und München studiert, hatte dann einige Zeit privat als Komponist, Organist und Musiklehrer in meiner Heimatstadt gelebt, als ich aus einem unklaren Gefühl heraus, zu bald stehen geblieben zu sein, beschloß, mich um den Rubinsteinpreis zu bewerben. Dieser damals einzige große Wettbewerb war international und stand allen Musikern zwischen 20 und 26 Jahren offen; er fand alle fünf Jahre statt, 1905 in Paris, 1910 in St. Petersburg. Ich nahm teil und bekam keinen Preis. Auch Bartok hatte 1905 keinen Preis erhalten; er, weil er mehr konnte als die Jury, ich, weil ich zu wenig konnte. Ich beschloß, mich noch einmal auf die Schulbank zu setzen und nach Leipzig zu gehen. Das altberühmte Konservatorium stand damals in Blüte; ich hatte das Glück, von den berühmtesten Lehrern des Instituts als Schüler angenommen zu werden: von Karl Straube in Orgel, Robert Teichmüller in Klavier und bei Max Reger (dessen Schüler ich schon in München gewesen war) in Komposition. Sogleich umfing mich die einzigartige Arbeits-Atmosphäre der Stadt und des Instituts, der Wetteifer mit Schülern, die mir an Begabung und Können überlegen waren, spornte mich mächtig an. Ich habe wohl zu keiner Zeit meines Lebens in so kurzer Zeit so viel gelernt, wie in den ersten Monaten meines Studiums in Leipzig. Aber davon will ich hier nicht sprechen, sondern von einem Erlebnis, das, so beschämend es für mich war, mich doch gehindert hat, eine falsche Richtung in meinem Berufsleben einzuschlagen. Wie alle jungen Musiker wollte ich natürlich auch das Orchester-Dirigieren erlernen. Diese Ausbildung hatte der ausgezeichnete Violin-Pädagoge Hans Sitt unter sich. Da ich ein guter Partiturspieler war, durfte ich schon relativ bald an das Orchester. Es war eine große Orchesterbesetzung, die angehenden Dirigenten jede Woche zwei Stunden zur Verfügung stand, aber die Spieler waren, wie man sich denken kann, nicht sehr begeistert, dafür ihre Zeit opfern zu müssen. So war es häufig so: "Den Auftakt hat er noch geben dürfen, dann hat er keinen nennenswerten Widerstand mehr geleistet". Auch die Kritik seitens des Meisters war in den meisten Fällen alles andere als schmeichelhaft. Er war der richtigen Ansicht, daß man die jungen Leute, die diese Generalslaufbahn einschlagen wollten, nicht auch noch ermuntern dürfe. Umso erstaunter war ich, als ich die Ouvertüre zum "Cid" von Cornelius glücklich zum Ende gebracht hatte, kein Wort der Kritik zu hören. Er winkte mich lediglich heran, und sagte freundlich aber bestimmt: "Lassen Sie das, Sie eigenen sich dazu nicht". Das war wohl ein vernichtendes Urteil, aber wie bin ich heute noch Sitt dankbar dafür! Es hat mich abgehalten, mich um Stellungen zu bewerben, mit denen eine Orchesterleitung verbunden gewesen wäre, etwa die eines Akademischen Musikdirektors, und mir so viele Umwege und Enttäuschungen erspart. Wenn ich dieses kleine Erlebnis hier mitteile, so deshalb, weil ich meine, daß so ein kalter Wasserstrahl manchmal heilsamer ist als ein warmes Bad des Wohlwollens und der Ermunterung. Das war vor mehr als fünfzig Jahren - aber gilt dies alles nicht auch noch für heute?

Quelle:
Festschrift der Hochschule für Musik Leipzig, Februar 1966