1966 · Schwaben singen und musizieren

Die Sängerschaft Schwaben

Nachdem in dem vorstehenden Beitrag ein ausführliches, lebensnahes Bild der hundertjährigen Entwicklung unseres Bundes als einer studentischen Korporation gezeichnet wurde, soll in den folgenden Zeilen der Versuch gemacht werden, über die Musikpflege in unserem Bund zu berichten. Wie dort, soll auch hier zu Anfang kurz und zusammenfassend von der Stellung und Bedeutung der Musik an den deutschen Hochschulen und von dem Wandel ihrer Form und Ausübung gesprochen werden.

Im 16. bis 18. Jahrhundert bildeten sich aus den Landsmannschaften an den deutschen Universitäten blühende "Collegia musica" sowohl instrumentaliter wie vocaliter; bedeutende Komponisten haben für sie Chöre und Kammermusik geschrieben. Die Collegia wirkten bei akademischen Feiern mit und hatten jährlich einmal eine festliche Zusammenkunft, ein "Convivium musicale", bei dem wacker gespeist und gezecht wurde. In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts sehen wir einen raschen Verfall der studentischen Sitten und damit des Ansehens der Verbindungs-Studenten: sie galten vielfach als Sauf- und Radaubrüder, die Collegia musica verfielen, und erst nach den Befreiungskriegen erhielt das studentische Verbindungswesen, besonders in den Burschenschaften, einen neuen Auftrieb. Diese neuen studentischen Verbindungen waren idealistisch, freiheitlich und vaterländisch gesinnt; sie standen in scharfem Gegensatz, oft in offenem Widerstand gegen die reaktionäre Polizeiregierung in den vielen Kleinstaaten, die damals die buntscheckige Landkarte Deutschlands bildeten. Noch eine zweite Gruppe nahm Stellung gegen das reaktionäre Regime des Vor-März (d. h. der Zeit vor der März-Revolution von 1848): es waren die Bürger, die in den Freiheitskriegen mitgefochten hatten. Sie wählten eine Form des Zusammenschlusses, gegen die auch die Polizei machtlos war; sie schlossen sich zu Männerchören zusammen. In ihnen konnten sie ihrer Liebe zur Heimat, zu einem Deutschland, das zwar äußerlich noch durch zahllose Zollschranken auseinandergerissen war, ihrer Liebe zur Freiheit, ihrer Verbundenheit mit der Natur ungehindert Ausdruck geben. Natürlich war dies nicht die einzige Zielsetzung; der Gesang verband sie zu Freundschaften, die oft ein Leben lang währten, sie besangen die Liebe, die kleinen Freuden des Alltags, kurz, es war auch eine starke Beimischung von dem dabei, was man Biedermeiertum nennt. In keinem früheren Jahrhundert hatte der Männerchor geblüht: Sätze für Männerchor sind in der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts eine seltene Ausnahme. Die Musik wurde damals in den Lateinschulen gepflegt, in denen die jungen Schüler Sopran und Alt, die älteren Tenor und Baß sangen. Auf den Universitäten wurden ebenfalls die Sopran- und Alt-Partien von Buben gesungen - erst in der Oper setzte sich der weibliche Sopran und Alt allmählich, dann immer stärker durch, aber Tenöre und Bässe ohne die ergänzenden Stimmen der Soprane und Alte singen zu lassen, wäre niemand eingefallen. So hat also nicht ein musikalischer Stilwechsel, sondern ein tieferer sozialer und politischer Umschwung dazu geführt, daß nach 1815 auf einmal landauf, landab Liederkränze, Liedertafeln entstanden, die zum großen Teil heute noch bestehen und eine lange Blütezeit hinter sich haben. Als ein Nebentrieb dieser bürgerlichen Männerchöre sind die studentischen zu werten, die sich im 19. Jahrhundert bildeten. Die alten Traditionen der "Collegia musica" waren abgerissen, sie starben, als die Pflege der Musik in den Schulen durch den Rationalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts fast auf den Nullpunkt sank. So mußte bescheiden angefangen werden. Die Geschichte unseres Bundes hat gezeigt, wie an unserer TH dieser Zusammenschluß anfänglich noch lose, interkorporativ war und allmählich erst festere Formen annahm. Davon soll hier nicht noch einmal die Rede sein, aber davon, daß diese Art der Musikpflege bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs sich noch fast ganz auf den vierstimmigen Männerchor beschränkte. Es ist klar, daß dabei für einen studentischen Männerchor nur selten Lorbeeren zu holen waren. Ein Chor mit durchschnittlich dreißig bis fünfzig Sängern (selten mehr, oft weniger), die von Semester zu Semester wechseln, kann unmöglich die Leistung eines großen, festgefügten bürgerlichen Männerchors erreichen. Er will es aber auch gar nicht. Viele unserer Bundesbrüder sind ohne nähere Beziehung zur Musik eingetreten, weil ihre Freunde da aktiv waren und weil sie wußten, daß sie in dieser Gemeinschaft wertvolle Menschen kennenlernen und Bindungen fürs Leben eingehen konnten. Um so höher ist der erste Preis im Kunstgesang zu werten, den unser Bund im Jahre 1881 unter der befeuernden Leitung von AH Professor Förstler, der auch Dirigent des Stuttgarter Liederkranzes war, auf dem Schwäbischen Sängerbundesfest in Schwäbisch Gmünd sich ersang.

Aber die Voraussetzungen, unter denen damals die Männerchöre gegründet worden waren, bestanden vor 1900 längst nicht mehr. Es gab ein stolzes Deutsches Reich, eine aufblühende Industrie, eine weltweite Wirtschaft, ein klassenbewußtes Arbeitertum, was sollten in dieser gewandelten Welt noch Männerchöre? Die großen Chöre flüchteten in den "erschwerten Kunstgesang", die kleinen sanken zum Banausentum ab, die studentischen standen etwa in der Mitte. In diese Situation fiel der Ausbruch des ersten Weltkriegs. Nun flammte der Idealismus der Jugend noch einmal hoch auf, aber dem Männerchor erwuchs daraus keine neue Blüte. Nach dem Zusammenbruch von 1918 teilten sich wie überall auch in der Studentenschaft die Geister: die einen suchten nach einem neuen Inhalt, nach neuen Formen des studentischen Lebens, auch in der Musik erstrebten sie eine Ausweitung, eine Pflege der Kammermusik und des Instrumentenspiels. Die andern wollten aus dem Zusammenbruch die gültigen Werte der Vergangenheit retten. Beide Richtungen prallten in unserem Bund heftig zusammen, die konservative Richtung siegte, und die Musikpflege im Bund beschränkte sich bis zum zweiten politischen Zusammenbruch 1945 im wesentlichen auf den vierstimmigen Männerchor, freilich mit einem weiteren Horizont als vor 1914. Was instrumental geleistet wurde, hing davon ab, ob begabte Geiger oder Klavierspieler aktiv wurden. Diesem erweiterten Musikbetrieb dienten neben den Konzerten besonders die Familientage auf dem Haus, bei dem sich junge Bundesbrüder hören lassen konnten.

Ein noch tieferer Einschnitt als der November 1918 war der Mai 1945. Seitdem leben wir im Beginn eines neuen Weltzeitalters. In der Musik ist es gekennzeichnet durch die Abwendung der Kunstmusik von der Tonalität, in der reproduktiven Musik durch hochgesteigerte Technisierung, durch Rundfunk und Schallplatte, durch die Formen der großstädtischen Unterhaltungsmusik, also durch eine verwirrende Vielfalt sich durchkreuzender Strömungen, in der es schwer war (und ist), einen festen Halt zu finden. Als eine der wenigen Sängerschaften gab unter diesen Einflüssen unser Bund das ausschließliche Prinzip des Männerchors auf. Er wandelte sich vorübergehend in einen "Akademischen Singkreis", dem nun die große wertvolle Literatur der klassischen und modernen Musik zu Gebote stand. Manche musikbegeisterte Studenten traten daraufhin ein, aber sie wollten Musik und ein zwangloses geselliges Leben, nicht die festen Formen einer Korporation. Die Leistungen des Chores steigerten sich rasch, der Chor konnte sogar Auslandsreisen machen - aber er war mit der Aufnahme von jungen Damen eben kein Männerbund mehr, was jede studentische Korporation ja in erster Linie sein will und sein muß. So kam es zum zweitenmal zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung, die wieder zum Austritt einer Anzahl von Bundesbrüdern führte. Aber auch nach dem Eintritt in die Deutsche Sängerschaft kehrte der Bund nicht zur ausschließlichen Pflege des vierstimmigen Männerchors zurück, in der richtigen Einsicht, daß diese Form des Musizierens sich überlebt hatte und kleinbürgerlich geworden war. Liest man in der Zeitschrift "Deutsche Sängerschaft" die Berichte "Von Sängerschaften", so findet man nur selten ein Wort über ihre musikalische Arbeit. Was wäre da auch schon zu berichten, denn in der Regel wird weder das stimmliche Material noch die zur Verfügung stehende Literatur einigermaßen befriedigende Leistungen ermöglichen. Daß unser Bund es wagen kann, ein großes, berühmtes, modernes Chorwerk, die "Carmina burana" von Carl Orff, auf das Programm des Festkonzerts beim 100. Stiftungsfest zu setzen, dürfte ihm eine Sonderstellung unter den deutschen Sängerschaften verschaffen. Möge er für seinen idealistischen Einsatz belohnt werden!

Quelle:
Die Sängerschaft Schwaben
i.d.DS (Weim. CC)
an der
Technischen Hoschule Stuttgart
1866 1966
Herausgegeben zum 100. Stiftungsfest
Pfingsten 1966
vom Altherrenverband
S. 41 44