1966 · Was erwarte ich von einer Musikgeschichte?

Musica

Wie oft wird man doch von Schülern, von Musikstudierenden und von Fachkollegen gefragt: "Welche Musikgeschichte würden Sie mir empfehlen?" Es ist eine Frage, die allgemein gar nicht beantwortet werden kann; nicht nur ist der Bildungsgrad und sind die Ansprüche, die der Leser stellt, sehr verschieden, sondern in gleicher Weise auch die Ansprüche, die ein derartiges Werk an seine Leser stellt. Was die Benutzer betrifft, so kann man sie in drei Gruppen einteilen: die der Musikstudenten, der Liebhaber und der Fachmusiker.

Am leichtesten ist die Frage für den Musikstudenten zu beantworten: Er sucht ein Lehrbuch, das ihm knapp und übersichtlich den Stoff vermittelt, den er für die Prüfung braucht. Da sind es zwei bewährte Werke, zwischen denen er wählen kann: das Lehrbuch von H. J. Moser und das von K. H. Wörner. Fast unübersehbar groß ist die Zahl der Darstellungen, die sich an den Liebhaber der Musik wenden, der kein Lehrbuch, sondern ein Lesebuch sucht. Um einige Werke herauszugreifen, nenne ich: E. Preußner, F. Högler, H. Engel, H. J. Moser, und die soeben erschienene Musikgeschichte von H. Renner. Der Fachmusiker wird das Handbuch von G. Adler oder das Handbuch der Musikwissenschaft von Bücken bevorzugen, von kleineren Werken vielleicht das von J. Handschin. Über die Fragen und Probleme, vor die sich alle diese Werke gestellt sehen, soll nun im folgenden ein kurzer Überblick gegeben werden.

Da steht an erster Stelle die Frage nach der Abgrenzung des Stoffes: Eine Musikgeschichte aller Völker und Zeiten oder nur eine des christlichen Abendlandes? Da uns nur letztere vertraut ist, so muß sich eine einleitende Beschreibung der außereuropäischen Musikkulturen notwendig auf Sekundärliteratur stützen. Es gibt freilich heute im Handel Schallplatten exotischer Musik, besonders aus dem Nahen und Fernen Osten, aber ein Erleben dieser Musik setzt ein Erleben der Kultur voraus, auf der sie gewachsen ist, die dem überwiegenden Teil der Hörer und Leser fehlt. Selbst von der griechischen Musik hat Hermann Abert freimütig bekannt, daß wir ungeachtet der großen Zahl von indirekten Zeugnissen, die wir von ihr besitzen, sie nicht verstehen können. So ist es auch natürlich und verständlich, daß alle Darstellungen der abendländischen Musikgeschichte die Frühzeit und das Mittelalter nur im Überblick behandeln; je näher wir der Gegenwart kommen, desto ausführlicher und lebendiger wird die Darstellung. Nur Handschin als ein profunder Kenner der alten Musik behandelt die neue nicht ausführlicher als jene. Das hat zur Folge, daß er bei der Beschreibung des 19. Jahrhunderts vier ihrem Wesen nach sehr verschiedene Komponisten wie Brahms, Bruckner, Cesar Franck und C. Saint-Saens summarisch auf zwei Seiten behandelt, auf weniger Raum, als er dem Komponisten Franz Liszt zubilligt!

Was die Einteilung der Epochen betrifft, so haben die meisten Autoren die in der Kultur- und Kunstgeschichte übliche übernommen. Das hat den Vorteil, daß Begriffe wie Gotik, Renaissance und Barock allgemein verständlich sind. Nun ist aber die mehrstimmige Musik des Abendlandes erst spät in den Kreis der übrigen Künste getreten und hat sich daher auch rascher entwickelt und verändert als jene. Zwischen der Sprache Homers und der Shakespeares ist ein geringerer Unterschied als zwischen der Musik der Gotik und der des Barock, zwischen Lessing und Thomas Mann ein kleinerer als zwischen den Spätwerken von Bach und den Frühwerken Haydns, die nur wenige Jahre auseinanderliegen. Versucht man aber, die Geschichte der Musik aus ihren eigenen Gesetzen abzuleiten, so läßt sich nur eine einzige Epoche, die Generalbaßzeit (1600 - 1750) deutlich abgrenzen. Jede derartige Einteilung ist nur eine Hilfskonstruktion; als eine geglückte sehe ich den Versuch von H. J. Moser an, für die letzten Jahrhunderte Perioden von 150 Jahren anzunehmen: 1150 - 1300 - 1450 - 1600 - 1750 - 1900, die in der Tat auch Stilgrenzen darstellen.

Weiter erhebt sich die Frage, ob die Musikgeschichte einzelne Gebiete (wie etwa die Oper, das Oratorium, die Sonate u. a.) herausheben soll. Die älteren Musikgeschichten haben das nicht getan; in vielen Fällen waren sie eben Gipfelwanderungen von einem großen Meister zum anderen (etwa Bach - Händel - Gluck - Haydn - Mozart - Beethoven), die kleineren Meister standen dabei im Schatten der großen. Nach 1900 entstand eine Gegenbewegung, eine fast anonyme Geschichtsbetrachtung: "Musikgeschichte als Geschichte ihrer Formwandlung". In ihr traten die großen Entwicklungslinien deutlich hervor, das Werk und die Persönlichkeit der Meister aber erschienen nicht mehr in ihrer Ganzheit. So mußte man z.B. Schubert sowohl beim deutschen Lied, wie bei der "Instrumentalmusik 1750 - 1828", ja sogar beim Oratorium und der Oper zusammensuchen. Und doch ist es gerade bei Schubert evident, daß alle seine Werke einer einzigen, ausgeprägten Persönlichkeit entspringen, die man als Ganzes dargestellt sehen möchte.

Nach diesen Fragen der Ordnung und Einteilung des Stoffs soll die Frage aufgeworfen werden, ob und wie weit eine Musikgeschichte Notenbeispiele bringen soll. Es gibt keine Darstellung der Kunstgeschichte, die auf ein reichliches Bildmaterial verzichten könnte, dessen Anschauung das, was das Wort nur allgemein umschreiben kann, verdeutlicht. In der Musik liegt der Fall anders. Ein Bild kann als Ganzes wiedergegeben und erfaßt werden (so unvollkommen die Reproduktion sein mag), ein Notenbeispiel umfaßt meist nur wenige Takte, greift in der Regel nur eine Stimme aus ihrem Verband heraus; dazu kommt, daß nur der musikalisch gebildete Leser einen Notentext ebenso lesen kann wie einen Worttext. Darum beschränken die meisten Musikgeschichten die Notenbeispiele so sehr wie möglich oder lassen sie ganz weg. Nun kann man freilich sagen, daß heute durch Rundfunk und Schallplatte die Kenntnis der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und der Gegenwart so allgemein geworden ist, daß sich Beispiele aus diesem Zeitraum erübrigen. Um so wichtiger sind sie aber für die ältere, besonders für die mittelalterliche Musik. Auf eine geradezu ideale Weise sind diese Probleme in der englischen "History of music in sound" gelöst, die für die mittelalterliche Musik Texthefte und Schallplatten liefert; die betreffenden Werke sind außerdem im Textheft in Partitur wiedergegeben. So sind Wort, Notenbild und lebendiger Klang in einer Weise vereinigt, wie man es sich nur wünschen kann. Aus der Erkenntnis heraus, daß eine Musikgeschichte ohne beigegebene Beispiele trocken bleibt, daß aber ausführliche Beispiele den Text sprengen würden, sind besondere Beispielsammlungen zur Musikgeschichte entstanden, von denen die von Schering wohl die bekannteste ist. Neben ihr darf die amerikanische von Davison und Apel herausgegebene genannt werden, deren Hauptgewicht auf der Musik des Mittelalters liegt. Beide Werke sind hochverdienstlich, haben aber den Nachteil, daß sie auf jede Erläuterung verzichten (sie geben nur bibliographische Nachweise). Eine "Synopsis", eine Zusammenschau des Textes einer Musikgeschichte mit einer unabhängigen davon entstandenen Beispielsammlung ist aber mühsam und in manchen Fällen vergeblich. Daher seien noch zwei kleinere Beispielsammlungen genannt, die wenigstens kurze Erläuterungen ihrer Beispiele geben: Einstein und Della Corte.

Wo die Aussagekraft des Wortes nicht ausreicht, kann vielleicht das Bild zu Hilfe kommen? Es gibt daher kaum eine Musikgeschichte, die auf Bilder verzichtet, seien es Bildnisse großer Meister, Faksimilia von Titelblättern u.a. So treten nun ähnlich den Beispielsammlungen auch Bildgeschichten der Musik auf. Sie können freilich in die Musik selbst nicht ebenso einführen wie Notenbeispiele, aber sie können von der Welt, in der die Musik lebt, einen Begriff geben. Da sei die einbändige Bildgeschichte der Musik von Karl M. Komma genannt, die besonders für den Liebhaber der Musik gedacht ist.

Zu den Kriterien, nach denen eine Darstellung der Musikgeschichte beurteilt werden kann, tritt noch die Frage nach den Werturteilen. Sie sind für den praktischen Musiker wie für den Musikliebhaber von entscheidender Bedeutung, nicht aber für den Wissenschaftler, der es für seine Hauptaufgabe ansieht, zu berichten, was war. Doch auch er kommt ohne Werturteile nicht aus. Er bemißt den Raum, den er einem Komponisten zuweist, nach dem Werturteil, das sich in Generationen gebildet hat, so daß über die Bedeutung der großen Meister eine Art consensus omnium besteht, der nur selten angezweifelt wird. Und doch möchte man in einer Musikgeschichte erfahren, worauf sich denn diese Werturteile gründen. Das ist die Aufgabe der Stilgeschichte, aber sie allein kann sie nicht lösen: Was der Musiker intuitiv begreift, ist mit dem rationalen Verstand oft schwer zu beweisen. Nur ein paar Beispiele: Die Etüden von Chopin haben die Gültigkeit klassischer Werke, seit mehr als hundert Jahren werden sie von Tausenden gespielt, ohne sich abzunützen, warum nicht auch die von Liszt? Oder wo steht es, daß Löwe einige geniale Balladen und so viele schwache geschrieben hat? Oder: Ist es für uns nicht beschämend, daß erst ein Laie - der Dichter Carl Spitteler - von den Schwächen der Sonaten Schuberts gesprochen hat? Oder: Alle Musikgeschichten registrieren den Einbruch der Opernmusik in die Kirchenmusik zu Anfang des 18. Jahrhunderts, aber nur Alfred Einstein hat ihn mit aller Entschiedenheit als "den Sündenfall der evangelischen Kirchenmusik" gewertet. Oder: Wo findet man heute noch ein unbefangenes, kritisches Urteil über die mangelhafte Formung mancher Sinfoniesätze von Bruckner? Eine solche Aufzählung könnte ad infinitum fortgesetzt werden. Arnold Mendelssohn hat in seinen Aufzeichnungen gesagt, kritische Urteile der Zeitgenossen über große Musiker hätten ihn immer interessiert, weil sie durchaus nicht nur Zeugnisse von Unverständnis oder gar Gehässigkeit seien. Wie würde doch eine Darstellung gewinnen, wenn sie mehr Werturteile fällen (und begründen) würde! Wenn Licht und Schatten verteilt würden! Wie blaß und kümmerlich ist das, was Kretzschmar in seiner Geschichte der Oper über Wagner zu sagen hat!

Auch innerhalb der Darstellung eines einzelnen Komponisten wird in vielen Fällen zwischen Haupt- und Nebenwerken nicht genügend unterschieden. Die Sonderstellung des "Messias" als eines "sacred oratorio", wie Händel es selbst nannte, ist in mehreren der oben angeführten Werke überhaupt nicht hervorgehoben (ganz abgesehen von der überragenden geschichtlichen Bedeutung dieses Werkes für die Nachwelt). Domenico Scarlatti ist als Klavierkomponist ein einzigartiges Phänomen; aber mehrere Werke sprechen nur von der vorklassischen Form seiner Sonaten. Und welche Musikgeschichte würde die fünf letzten Klaviersonaten Beethovens aus seinem Gesamtwerk gebührend herausheben? Genug davon.

Nach allem Gesagten dürfte es klar sein, daß keine Musikgeschichte allen Forderungen, die man an sie stellen möchte, genügen kann, daß keine alle Wünsche erfüllen kann, da jede "les defauts de ses vertus", die Mängel ihrer Vorzüge haben muß. Dies vorausgesetzt soll nun aber noch die jüngste, soeben erschienene Musikgeschichte von Hans Renner wenigstens kurz besprochen werden. Renner hat in seinem in großer Auflage verbreiteten Konzertführer bewiesen, daß er die Kunst beherrscht, Musik durch Worte zu umschreiben, ohne banal oder nichtssagend zu werden. Diese Fähigkeit kommt auch seiner Musikgeschichte zugute, in der er Klippen, an denen schon manche Musikgeschichte gescheitert ist, klug umschifft. Er übernimmt die herkömmliche Epocheneinteilung (Altertum -Mittelalter - Renaissance - Generalbaßzeit - Klassik - 19. Jahrhundert), ein Anhang bringt tabellarisch eine Übersicht über Notenschrift, Orchesterbesetzung, Musikinstrumente und musikalische Fachausdrücke; er läßt innerhalb des Flusses der Geschichte die großen Meister, und innerhalb ihrer Darstellung ihre Hauptwerke klar hervortreten. So kann diese Musikgeschichte, die vor allem für den Laien bestimmt ist, ihrer gut fundierten Urteile wegen auch dem Fachmann empfohlen werden.

Eine durchgehende Geschichtsschreibung muß notwendig auf viele Einzelheiten verzichten. Diese möge der Leser in einem Musiklexikon aufsuchen, das für jeden, der Musik treibt, ebenso unentbehrlich ist wie eine Musikgeschichte. Ob er sich für Moser entscheidet oder für Riemann - die Auflage von 1929, da die neue noch nicht fertig ist - oder für die vielbändige Enzyklopädie "Die Musik in Geschichte und Gegenwart", hängt von seinen Ansprüchen ab.

Weitere Ergänzungen einer allgemeinen Musikgeschichte bilden Teilmusikgeschichten, wie etwa Malschs Geschichte der deutschen Musik (wobei allerdings für die früheren Epochen bezweifelt werden kann, ob man die deutsche Musik aus dem Verband der europäischen herauslösen kann); dazu die Geschichte einzelner Gattungen, wie Georgiis "Klaviermusik" oder Frotschers "Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition". Die wichtigste Ergänzung bilden aber natürlich die Biographien der großen Meister. Es gibt deren fast zu viele, und die meisten beschreiben das Leben ausführlich und liebevoll, behandeln aber die Werke nur summarisch. Neben den großen klassischen Werken wie den Biographien über Bach von Spitta und Schweitzer, über Mozart von Abert und Paumgartner, steht eine Unzahl kleiner populärer von unterschiedlichem Wert. Hervorgehoben sei die Brahms-Biographie von Hans Gál und die über Johann Strauß von Hans Ed. Jacob, die beide als Taschenbücher zu haben sind. Neben den Biographien sollten im Bücherschrank eines Musikfreundes noch Werke über Stil, Form, Aufführungspraxis und andere Gebiete stehen, auf die einzugehen hier aber zu weit führen würde.

Wir sind am Schluß. Unsere Übersicht, in die auch einige Werturteile eingeflochten wurden, soll dem Leser die Wahl erleichtern und ihn zur Besinnung darüber aufrufen, was er von einer Musikgeschichte eigentlich erwartet. Das Geld dazu kann auch ein Musiklehrer mit bescheidenem Einkommen aufbringen, aber wird
er auch die Zeit haben, die Werke zu lesen und sich anzueignen? Das kann er nur, wenn er ein Wort von Schopenhauer beherzigt, das heute vielleicht noch mehr Gültigkeit hat als vor hundert Jahren:
"... denn um das Gute zu lesen, gibt es nur ein Mittel - das Schlechte nicht zu lesen".

Quelle:
Musica, April 1966