Besprechungen

W. Kiefner

Achtzig Choralvorspiele deutscher Meister des 17. und 18. Jahrhunderts für die Orgel.
(H. Keller, Ed. Peters Nr. 4448, 4.- RM.)

Dieses Heft kommt wie gerufen. Eine derartige Sammlung hat uns längst gefehlt. Wer die Gesamtausgaben von Walther, Scheidt, Böhm, Buxtehude, die verschiedenen Bärenreiter=Ausgaben (J. Chr. Bach, Pachelbel, Walther) und ähnliche Sammlungen besitzt, wird naturgemäß viele Bekannte hier wiederfinden; aber auch er wird dankbar sein, sie in diesem handlichen Bande griffbereit beieinander zu haben. Vor allem aber wird er für kleinere Orgeln und Organisten von großem Wert sein.

Die Auswahl wurde im Blick auf die gottesdienstliche Verwendbarkeit getroffen. Zu fast allen wichtigeren Choralweisen hat der Herausgeber einen, gelegentlich auch mehrere Sätze zusammengesucht; einige sind in die uns geläufige Choraltonart transponiert. Es ist kein Stück darunter, das wegen seiner Ausdehnung oder seiner Form im Gottesdienst ungeeignet wäre, keines, das seinem Wert nach ihm nicht anstünde. Die Schwierigkeit liegt fast durchweg unter der der Straubeschen Sammlung. Nur bei vierundzwanzig Stücken ist das Pedal obligat, bei dreiundzwanzig weiteren ist es möglich, aber nicht notwendig, und dreiunddreißig sind ohne Pedal auszuführen. Die Voraussetzungen für das Instrument sind ebenfalls gering. Einen guten Teil kann man notfalls sogar auf dem Harmonium ausführen. Nur fünf bis sechs Stücke erfordern zwei Manuale. Eine ausgezeichnete kurze Einführung in die verschiedenen Formen des Orgelchorals und in die Fragen der Wiedergabe hilft Unerfahrenen zurecht.

So ist das Heft ein gutes Studienmaterial für unsere Organistenkurse. Es hat Stücke darin, mit denen man, einige Vorbildung auf einem Tasteninstrument vorausgesetzt, in der ersten Stunde anfangen kann; sie ersetzen dann viele langweilige Stücke aus dem "Ritter". Dann kann man den Schüler mit diesem Heft bis an die Schwelle des Bachschen Orgelbüchleins hinaufführen. Wir finden darin die verschiedensten Gestaltungen, von dem schlichten (und in seiner betonten Schlichtheit imponierenden) Choralfughettchen J. Chr. Bachs bis zur ausgewachsenen Choralfuge Pachelbels, von Zachauschen Tricinien über die meisterlichen vierstimmigen Sätze aus der Görlitzer Tabulatur zu kolorierten Stücken von Böhm und Buxtehude. Ich kann aus praktischer Erfahrung über drei Monate hinweg mit Studenten und Hilfsorganisten bezeugen, wieviel Freude dieses Heft Lehrer und Schülern macht, wie es zum Stürmen neuer Schanzen geradezu anfeuert. Auch dem Lehrer gibt es immer neue Gelegenheit, musikalische, formgeschichtliche, registriertechnische, gottesdienstliche Dinge zu besprechen. (In Klammern, nicht für das Ohr der Schüler, kann man hinzufügen: es werden dabei gelegentlich auch die Grenzen der alten Meister sichtbar. Es hat einige Stücke darunter, die ein begabter und fleißiger Musikhochschüler ähnlich auch hätte schreiben, und Meister Strebel ebenso, wenn nicht besser, hätte improvisieren können. Aber wie viele können das?!)

Wir dürfen dem Herausgeber und dem Verlag überaus dankbar sein für diese Gabe, die künstlerische Hochwertigkeit und praktische Gebrauchsfähigkeit in so glücklicher Weise vereinigt.
W. Kiefner


Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
12. Jahrgang Nr. 3, April 1938

Rudolf Steglich

Hermann Keller: Die Klavierwerke Bachs.
Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Form, Deutung und Wiedergabe. C. F. Peters, Leipzig 1950. 4 , 280 S., 4 Bildtafeln.

Zum ersten Mal ist hier das gesamte Klavierwerk Bachs zum Thema eines Buches genommen. Und zwar will der Verf. nicht nur die allgemeinen Züge dieses Gesamtwerks, sondern auch die Eigenart der einzelnen Werke durch charakteristische Hinweise so verständlich machen, daß sein Buch nicht nur dem Berufsmusiker, sondern auch dem gebildeten Laien zugänglich ist. In diesem Sinne werden nach einer Einführung in Bachs "Welt und Umwelt", wobei auch die Hauptfragen der Wiedergabe erörtert werden, die Klavierwerke der Zeitfolge ihrer mutmaßlichen Entstehung nach besprochen.

Das Buch greift damit eine zugleich historische und pädagogische Aufgabe an, auf Grund eindringlichen Studiums der Bach-Werke und der Bach-Literatur, mit musikalischem Feinsinn und besonderem pädagogischem Geschick, wozu auch die Klarheit und Wärme der Darstellung gehört, die dem großen, lebensvollen Gegenstande wohl angemessen ist. Wie etwa in einer "kleinen Fugenlehre" "melodische Urtatsachen" der Bachischen Musik nahegebracht werden, das ist einer der vielen Einzelzüge, die das Buch über die übliche Unterweisung emporheben.

Wenn der Verf. dennoch erklärt, daß seine Arbeit in manchem "notwendigerweise unvollkommen" bleibe, so liegt das schon am Umfang und Tiefgang des Stoffes, der auf einigen 200 Seiten nicht erschöpft werden kann. Es liegt aber auch am Stande der Musikwissenschaft selbst. So oft auch der Lebensgang Bachs beschrieben wurde, so viel auch die vom Klang abstrahierende Musikphilologie geleistet hat: so manche musikalische Grundfrage, auf die der um Ergründung und Darstellung des musikalischen Klanglebens Bemühte, also auch der Pädagoge immer wieder stößt, blieb weithin noch ungeklärt, so manches Grundwesentliche daher der unwillkürlichen Umdeutung nach heutiger Musiziergewohnheit ausgesetzt.

Als die für Deutung und Wiedergabe wichtigste dieser Grundfragen erweist sich an vielen Stellen des Buches die Taktfrage. Die ist von der heute vorherrschenden Theorie und Praxis eines bloßen zeitteilenden Akzentrhythmus, etwa gar auf Grund der verbreiteten Nivellierung des Gruppentakts durch gleichförmige Akzentuierung, allerdings nicht im Sinne Bachs zu lösen, weil Bachs Akzentuierung im Gruppentakt differenziert und durch den Generalbaß-Bewegungsrhythmus stetig verbunden und getragen ist. Bachs Takte verlaufen sonach im stetigen Wechsel von schwerebetontem Niederstreich und nicht minder lebensvoll anhebendem Aufstreich, welches "elevierte" Wesen für manche Taktart, z. B. von Walther für den "Ouvertürentakt", in besonderem Maße gefordert wird. So ist Kellers Annahme, daß in Sätzen wie der 1. C-dur-Fuge des Wohltemperierten Klaviers und den ersten beiden Sätzen des Italienischen Konzerts trotz Bachs Angabe von Zählzeit-Vierteln Achtel zu zählen seien, wohl zu erklären aus dem weitverbreiteten Fortfall des lebendigen Anhubs im heutigen Musizieren. Kommt in reich ausgezierten Sätzen wie dem Andante des Italienischen Konzerts hinzu, daß deren Takt und Tempo im Grunde von dem Gang der Melodiehauptlinie bestimmt werden, weshalb die ausgezierte Gestalt um so mehr (mit Forkel zu reden:) "völlig leicht" gespielt werden will, weil sonst mit der Flüssigkeit der Bewegung auch deren Weitzügigkeit verkümmert. Daß übrigens das barocke Menuett "ruhig" zu nehmen sei, dem widersprechen die zeitgenössischen Zeugen von Brossard ("fort gay et fort vite") über Walther ("behende kleine Schritte, fast wie 3/8 geschlagen") bis zu Quantzens Zählzeitbestimmung 160. Erst der Enzyklopädist Diderot widerspricht Brossards Angabe nunmehr naturgemäß, weil der mit dem Selbstbewußtsein des aufgeklärten Menschen geführte und akzentuierte Menuettschritt eben nicht mehr so leicht und behend ist wie der vom Generalbaß in der Bach-Zeit getragene und beschwingte.

Einige Bemerkungen zu Grundsätzliches berührenden Einzelfragen mögen andeuten, wie anregend K.s Ausführungen auch da wirken, wo sie Einwänden Raum lassen.

Zu S. 127: An Stelle der Behauptung, "die Geistigkeit des Wohltemperierten Klaviers könne auf keinem Klavierinstrument ganz zum Klang werden", möchte ich auf Grund eindringlichen Umgangs mit Klavieren der Bachzeit lieber sagen: die geistiglebendige Weite dieser Musik läßt den weiten Spiel-Raum, der sich vom Klavichord zum Cembalo und zum Positiv erstreckt. Zu S. 141: Daß das 1. Es-dur-Präludium im W. Kl. "fehl am Ort" sei, dem widerspricht wohl der thematische Befund: die emporgreifenden kurzen Elementarmotive der Präludiumsteile gewinnen erst im Fugenthema festen Halt und feindurchgliederte wie weitzügige Gestalt. Zu S. 153: Das Thema der 1. A-dur-Fuge im W. Kl., deren "Übermaß an steigenden Quarten" Keller "schwer zu ertragen" findet und deren Beginn Hellmuth Christian Wolff im Bach-Jahrbuch 1940 1948 S. 92 f. gegen Bachs Taktvorschrift, Taktstriche und Balkenbindungen als Taktfolge 5/8, 2/4, 2/4, 5/8, 9/8 deutet, der Betonung der Quarten zuliebe, ist wohl deshalb nicht so leicht der Bachschen Notierung entsprechend lebendig zu machen und zu artikulieren, weil es sozusagen doppelgleisig läuft: einen unteren Stufenzug gis' a' h' eis" verbindend mit einem oberen cis" d" e" fis" e" a". Statt einer sturen Quartenfolge hört man dann ein Bachs Taktangaben genau entsprechendes, graziös verschlungenes Melodiegebilde, wie es etwa an einer Stelle des Dresdner Zwingers oder in einer Porzellangruppe Kändlers plastisch geworden sein könnte:

[Notenbeispiel]

Zu S. 179: Die Harmoniefolge im neuntletzten Takt des Präludiums des Es-dur-Lautenwerks (Schmieder 998) ist als Fortgang des neapolitanischen Sextakkords zur der Dominante vorangestellten Doppeldominante in der Es-dur-Kadenz doch wohl logisch, wie mir auch im übrigen dieses von K. zu den zweifelhaften gezählte Werk durchaus Bach-würdig scheint, allerdings vielleicht durch Weiß angeregt mehr "Dresdener Barock", als man Bach sonst zuzugestehen geneigt ist. Zu S. 209: Zu meiner von K. erwähnten, doch bezweifelten Deutung der vier Duette des Dritten Teils der Klavierübung als Darstellung der vier Elemente sei die Reihenfolge berichtigt: Feuer (Sonnenkreis des Himmels), Luft (freie, lichte Himmelsluft und dumpfer Gruft- und Nachthauch), Wasser (zumal in der "regulierten" Erscheinungsform barocker Wasserkünste), Erde (der fest umgrenzte Erdball, sich im Weltenraum drehend). Und es sei zugefügt, daß die Darstellung der vier Elemente die damals übliche Form der Welt-Darstellung war: von den Gobelins Le Bruns' für Ludwig XIV., die in Kupferstichen durch die Welt gingen und auch deutsche Fürsten zur Nachahmung reizten, über das Pariser Elementen-Ballett, das Ludwig XV. mittanzte, zu der Festdarstellung im Dresdener Zwinger anläßlich der Fürstenhochzeit 1719 und den Porzellanplastiken Kändlers 1742 in unmittelbarer Nachbarschaft Bachs und nochmals 1748 für den Grafen Brühl. Zu S. 240: Vorhalte wie die der Schlußkadenz des 2. As-dur-Präludiums im W. Kl. bezeugen wohl weniger Empfindsamkeit als im Gegensatz zu dem kurzangebundenen vorhaltlosen Klang kraftvoll ausweitende Führung, kantable Größe. Zu S. 250: Daß König Friedrich als Fugenthema das Fugatothema aus seiner zweiten Flötensonate gegeben habe, das dann von Bach durch wesentliche Änderungen zum Thema regium gemacht worden sei, wie K. meint, ist doch sehr unwahrscheinlich: weil das eine empfindliche Zurechtweisung des Königs vor seinen Musikern durch Bach gewesen wäre und weil die Folge von acht absteigenden Halbtönen (statt etwa nach dem synkopierten es' mit g' d' c' fortzufahren) kaum bachisch ist. Zu S. 252: Schade, daß die Klavierspieler nicht auch auf die Fugen der "Kunst der Fuge" so nachdrücklich hingewiesen werden wie auf die Kanons! Abgesehen von den Spiegelfugen, zumal der zweiten, die aber Bach selbst ja auch für zwei Klaviere setzte, sind sie doch durchaus klaviermäßig gehalten. Die Zählung der Contrapuncte erfolgte übrigens wohl besser nach dem Originaldruck als nach Graeser. Zu S. 267: Die Bemerkung, daß die Feinheiten der Musik der Hasse und Graun, der Italiener und der Bach-Söhne bei Johann Sebastian nicht zu finden seien, entspricht wohl der seit langem auch praktisch geübten allgemeinen Überzeugung, nicht aber z. B. dem schwerwiegenden Ohrenzeugenurteil Friedemanns bei Forkel: er sei auch in Bezug auf Zierlichkeit und Feinheit im Klavierspiel nur ein Kind gegen seinen Vater. Die Epoche der feinsten und akkuratesten Ausführung, von der Emanuel spricht, ist die schon von Mattheson und Heinichen literarisch begründete Epoche der galanten Kantabilität, der auch der Kapellmeister und Hofkomponist Bach bei all seinem überragenden Ingewicht keineswegs fernstand.

Ein Anhang, der ein alphabetisches Register der Klavierwerke mit Verweisen auf die Bach-Gesamtausgabe, ein Register der Werke in der Anordnung der Peters-Ausgabe sowie ein Personen- und Sachregister bringt, ferner einige Tafeln mit Instrumentenbildern und Faksimiles erhöhen die Brauchbarkeit des Buches. Möchte es in recht viele Hände kommen, um seine Aufgabe zu erfüllen, zur Versenkung in die Gedankenwelt Bachs anzuregen!
Rudolf Steglich

Quelle:
Die Musikforschung 4 (1951) 2/3, S. 247-249

Alfred Dürr

Eine Einführung zum Wohltemperierten Klavier
Das Wohltemperierte Klavier gehört zu denjenigen Werken Bachs, die am wenigsten der Vergessenheit anheimgefallen sind, die seit Mozart allgemeine Bewunderung geerntet und denen berühmte Theoretiker eingehende Analysen gewidmet haben. Trotzdem oder vielmehr gerade deshalb füllt Hermann Kellers Buch "Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach" (Bärenreiter, Kassel 1965, DM 19.60) eine fühlbare Lücke aus, da es nicht sosehr der exakten Analyse gewidmet ist, sondern "vor allem der Praxis dienen" will; denn "wenn Bach komponierte, war er weder der fünfte Evangelist noch ein Kirchenmusiker oder Kapellmeister von Amts wegen, weder Gotiker noch Zahlenmystiker etwas von all dem wohl auch , vor allem aber war er Musiker".

Die Stärke wie die Schwäche des Buches ist seine Konzilianz. Keller ist kein rechthaberischer Dogmatiker wie Riemann oder gar Czaczkes; er weiß, daß die Schönheit eines Kunstwerkes oft gerade in seiner Mehrdeutigkeit liegen kann, die sich der exakten Analyse entzieht und mehrere Interpretationen erlaubt; und Keller läßt daher auch mehrere Meinungen gelten, angefangen bei der Frage nach dem rechten Instrument für die Wiedergabe, nach dem Zusammenhang zwischen Präludium und Fuge, nach der Ausführung der Ornamente (daß die Praxis einen Trillerbeginn nicht nur mit der Nebennote, sondern auch mit der Hauptnote zuließ, ist eine naheliegende aber schwer beweisbare Hypothese, erst recht, wann sie ihn zuließ!) bis hin zur speziellen Analyse der einzelnen Stücke. Diese Einzelanalyse wird auch manchmal nicht streng durchgeführt; so erfährt der Leser bisweilen nicht genau, wieviele Durchführungen eine Fuge nach des Verfassers Ansicht hat eben dann, wenn die Fuge selbst keine deutliche Gliederung erkennen läßt und daher unterschiedliche Interpretationen erlaubt (z. B. I, 15 G-dur). Aber gerade daß manche Fragen offen bleiben, macht die Ehrlichkeit des Buches aus.

Gelegentlich wäre vielleicht ein näheres Eingehen auf die Geschichte der Fuge dienlich. So läßt sich z. B. das Problem der tonalen Beantwortung des Fugenthemas m. E. leichter aus dem Unterschied zwischen authentischem und plagalem Modus erfassen als aus dem abstrakten Verhältnis der Intervalle, das doch nur eine Folge jenes Unterschiedes ist.

Am Schluß jeder Einzelbesprechung gibt Keller noch kurze Hinweise für den Vortrag, die der "lehrbegierigen musikalischen Jugend" höchst willkommen sein dürften, da sie, wie ich glaube, ein elementares Verständnis des Autors für die Musik Bachs erweisen, dessen Auffassung selbst für den flügge gewordenen Interpreten ein sicherer Prüfstein sein wird. Alfred Dürr

Quelle:
Musica 21 (1967) S. 43

Werner Breckoff

Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. Werk und Wiedergabe.
Kassel Basel Paris London New York: Bärenreiter 1965. 197 S.

"Diese Arbeit will vor allem der Praxis dienen", betont der Verfasser einleitend, so wie er 1950 in seiner Monographie über Die Klavierwerke Bachs vor allem "dem Spieler ... Ratgeber und Führer" sein wollte. Dort hatte er auf den Seiten 124 158 und 219 bis 249 die beiden Wohltemperierten Klaviere schon einmal besprochen. Daher finden sich im hier vorgelegten Büchlein manche Formulierungen übernommen die Werke sind ja dieselben geblieben , doch löst der Niederschlag einer weiteren fünfzehnjährigen Beschäftigung des Kenners und Liebhabers Hermann Keller mit Bachs Instrumentalschaffen freudige Besinnlichkeit aus. Zeigt sich doch, wie der Umgang mit lebendiger Kunst den Blick schärft, wie sich das Verständnis weiterhin sublimiert, in welcher Weise Musik zu steter Auseinandersetzung auffordert. Daher ist die Arbeit, "die im übrigen aber auf Grund der seither erschienenen Literatur und dessen" so der Verfasser , "was ich selbst dazu gelernt habe, völlig neu geschrieben worden ..."

In der Tat sind die Notenbeispiele gegenüber der ersten Fassung um etwa zehn Prozent vermehrt, die Beschreibungen ausführlicher geraten, die Fugenanalysen erwähnen manche ehedem nicht angeführte Feinheit Bachscher Setzkunst. Neuere Beiträge, so von Johann Nepomuk David, Ludwig Czaczkes, Carl Dahlhaus wurden zur Kenntnis genommen und auf angemessenem Platz eingeordnet. Das hat allerdings das hier detaillierter gemalte Bild nur um Nunancen bereichert. Hingegen übt offenbar Walter Gerstenbergs Aufsatz Zur Verbindung von Präludium und Fuge bei Bach (Kongreßbericht Lüneburg, Kassel 1952) nachhaltigeren Einfluß aus; die nun vorgeschlagenen Tempi weichen bisweilen beträchtlich von den früheren ab: schien 1950 für das erste Es-dur-Präludium (BWV 852,1) das Tempo Viertel = 80 angezeigt, genügen nunmehr Viertel = 60, für die E-dur-Fuge (BWV 854,2) wünscht man sich heute Viertel = 96 104, während bisher Viertel = 76 ausreichten; die zweite gis-moll-Fuge (BWV 887, 2) verlangt gar punktierte Viertel = 96 "oder mehr" gegenüber den früheren punktierte Viertel = 69. Hat hier die Wissenschaft den Interpreten zu neuer Auffassung inspiriert?

Zur Quellenbeurteilung trägt sie ungleich weniger bei. Walter Emerys Aufsatz über The London Autograph ... aus dem Jahre 1953 (Music & Letters XXXIV, S. 106 ff.) legt dar, daß manche vom Verfasser als autograph angesehene Niederschrift von der Hand Anna Magdalenas stammt, die wichtigste Hs. BB. mus. ms. P 416 wird kaum zu Rate gezogen, frühe Fassungen werden weiterhin hypothetisch datiert: Het Wohltemperierte Clavier von Hans Brandts Buys (Arnhem 3/1955) ist Kronzeuge auch für die Quellenbewertung.

Doch tut das dem einfühlsamen Verständnis für die einzelnen Sätze keinen Abbruch. Es gründet auf einer umfassenden Kenntnis des Bachschen Gesamtwerkes, die auch den Umgang mit dem Band über Die Klavierwerke von 1950 so nützlich macht. Wer jenes Buch nicht besitzt, mag getrost auf das neue Büchlein zurückgreifen, in dem der Autor bescheiden, hermeneutisch sensibel und geschmackvoll in der persönlichen Deutung ("... das erste Notturno der Klaviermusik, ein Nachtstück mit der Klarheit der Sternennacht ...") "nicht mehr sein will ... als ein Kastellan, der den Besucher und Betrachter eines großen, vielgliedrigen Bauwerks auf die Gesamtform, auf die Funktion der Einzelteile und auf die individuellen Merkmale aufmerksam macht".
Werner Breckoff, Göttingen

Quelle:
Die Musikforschung 21 (1968) 1, S. 117-118

Joachim Dorfmüller

Hermann Keller: Das Wohltemperierte Klavier von J. S. Bach. Werk und Wiedergabe.
Taschenbuchausgabe. Kassel 1973: Bärenreiter. 197 S. DM 12.-.

Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts u. a. durch keine Geringeren als Reger und Straube theoretisch und praktisch in die musikalische Formenwelt, insbesondere die des Leipziger Thomaskantors eingeführt, hat sich Hermann Keller (1885 bis 1967) zeit seines Lebens lehrend und schriftstellerisch mit J. S. Bach auseinandergesetzt. Welcher ambitionierte Kirchenmusiker kennt nicht zumindest Kellers "Die Orgelwerke Bachs" (Leipzig 1948) oder "Die Klavierwerke Bachs" (Leipzig 1950). Bärenreiter edierte 1965 erstmals (in Ganzleinen) den vom Emeritus Keller fertiggestellten Untersuchungen zu den beiden Bänden des "Wohltemperierten Klaviers", die nun, knapp ein Jahrzehnt später, in Coproduktion mit dtv als Taschenbuch (gegenüber DM 19.60 meiner 1968 erworbenen Erstausgabe) auf den Markt gekommen ist. (Vgl. auch schon die in gleicher Aufmachung veröffentlichten Bärenreiter-Bände "Die Kantaten von J. S. Bach" aus der Feder Alfred Dürrs vom Oktober 1971 und "Béla Bartók. Weg und Werk" von Bence Szabolsci aus dem Januar 1972.)

Hermann Keller gibt mehr als nur eine erste, globale und daher in mancherlei Hinsicht lückenhafte Einführung, wie sie gern im westeuropäisch-nordamerikanischen Raum geschrieben und gelesen werden. Er gibt aber auch weniger als es hochtheoretische Analysen vermögen; so beneidenswert gründlich und für jeden Wissenschaftler von ungeheurem Interesse Ludwig Czackes' Fugen-Untersuchungen zum "Wohltemperierten Klavier" sein mögen, so gering wird naturgemäß der Radius ihrer Breitenwirkung in der musikalischen Öffentlichkeit bleiben. Was Keller als reifes Alterswerk vorlegte, stellt gleichsam die goldene Mitte zwischen den obengenannten Alternativen dar. Jedem, der sich privat oder beruflich mit dem "Alten Testament der Pianisten" (Bülow) bzw. dem "Werk aller Werke" (Schumann), ob in seinen einzelnen Teilen oder als Ganzem, beschäftigen und auseinandersetzen will oder muß, vermag Keller hier das unbedingt notwendige Rüstzeug zu vermitteln. Jedem, und damit ist nicht nur der angehende oder schon aktive Musikologe gemeint, sondern auch und gerade der Pianist oder Cembalist, der über das Formalanalytische hinaus auch Ratschläge eines Praktikers bezüglich der Interpretation finden möchte, wird mit einem Minimum an Quantität tatsächlich ein Maximum an Qualität und Exaktheit geboten. Dies zeigt sich selbstverständlich bei den Einzelbetrachtungen zu jeder der 96 Kompositionen, vor allem aber auch in den Einleitungskapiteln wie etwa "Reine und temperierte Stimmung", "Der Charakter der Tonarten", "Zusammenhang von Präludium und Fuge" oder "Phrasierung und Artikulation". Hinweise auf Werke anderer Komponisten können dabei letztlich nur kurzweilig sein und den Horizont positiv erweitern. Knapp und präzise wie der der Stil sind auch die Notenbeispiele; wünschenswert wären lediglich vielleicht pädagogisch sinnvolle Schemata oder Skizzen, mit deren Hilfe formale Gliederungen veranschaulicht werden könnten.

Wie Bachs Opus heutzutage seinen festen Platz in Studienpensen, Prüfungsordnungen und Wettbewerben hat, so gewiß auf seine Weise auch Kellers Buch, das in die Privatbibliothek eines jeden Kirchenmusikers gehört, jetzt erst recht in der preislich günstigeren Taschenbuchausgabe.
Joachim Dorfmüller

Quelle:
Musik und Kirche 44 (1974) 1, S. 23-24