60 Jahre Stuttgarter Musikleben

Süddeutscher Rundfunk, 19.11.1965

Churchill hat einmal gesagt: Wer nicht mindestens 300 Jahre lebt, kann gar nicht mitreden. Nun, ich finde, daß einer, der 80 Jahre alt geworden ist, diese Forderung erfüllt: ist doch in den 80 Jahren so viel passiert wie früher in 300 Jahren! In der gehobenen Musik gab es nur die Wiener Klassik und die Romantik, keine Moderne, keine alte Musik außer Bach und Händel, noch weniger exotische Musik. So war es wenigstens in dem konservativen, streng bürgerlichen Stuttgart. Als Schüler klommen wir die steile Treppe zur Galerie des Konzertsaals der alten Liederhalle hinauf, um Max Pauer zu hören, der an sechs Abenden alle Sonaten von Beethoven spielte, oder Reisenauer oder Eugen d'Albert: Auch diese internationalen Größen konnten nicht riskieren, im großen Festsaal zu konzertieren, - das konnten nur Paderewski und Sarasate.

Als ich dreizehn Jahre alt war, widmete ich sechs Lieder ohne Worte - frei nach Mendelssohn - meiner Klavierlehrerin, und erhielt dafür eine wohlgezielte Ohrfeige meines Vaters, der von der Musik als Beruf nichts wissen wollte. Er argumentierte: wenn selbst große Meister wie Richard Wagner mit unerhörten Widerständen zu kämpfen hatten, wie wird es dann Dir kleinem Mann ergehen?! Er war ein gesuchter Architekt, ich sollte sein Geschäft übernehmen.

So bezog ich nach dem Maturum im Herbst 1903 die Technische Hochschule in Stuttgart, gab aber den Gedanken an die Musik nicht auf. Nach dem Tod meines Vaters ging ich nach München und nahm dort Privatunterricht bei Max Reger, der damals noch ein simpler "Herr Max Reger" war, ohne Titel und Anstellung, aber viel von sich reden machte. Seine Musik galt als schwierig und schwer verständlich, und ich meinte, wenn ich das begriffen hätte, würde ich keine Schwierigkeiten als Komponist mehr haben. Reger war freundlich zu mir, ermunterte mich, die Musik als Lebensberuf zu ergreifen, ja, er nahm mich auf Konzertreisen mit, wo ich mit ihm seine Werke für zwei Klaviere spielen durfte.

Ein Skiunfall (Bruch des linken Handgelenks) zwang mich, den Gedanken an eine Laufbahn als Pianist aufzugeben; ich wandte mich der Orgel zu, und ging, als Reger nach Leipzig übersiedelte, nach Stuttgart zurück, trieb aber meine Klavierstudien weiter bei Pauer. Im Jahr 1910 war (nach fünfjähriger Pause) wieder der internationale Rubinstein-Wettbewerb für Pianisten und Komponisten, die ihre Klavierwerke selbst zu spielen hatten. Er war in St. Petersburg. Ich fuhr mit meinem Freund Walter Georgii hin, lernte Glazunow und Leonid Kreutzer kennen, spielte eine eigene symphonische Phantasie für Klavier und Orchester, ein Trio und sechs Klavierstücke, errang aber keinen Preis. Ich sah, daß ich zu wenig konnte, und ging noch ein Jahr nach Leipzig, wo das altberühmte Konservatorium gerade eine neue Blüte erlebte. Ich war in Komposition natürlich wieder bei Reger, in Orgel bei dem genialen Organisten der Thomaskirche Karl Straube, in Klavier bei Robert Teichmüller, in Direktion bei Hans Sitt. Im Gewandhaus, zu dessen Hauptproben wir Zutritt hatten, dirigierte Artur Nikisch, der vergötterte, angebetete Liebling des Publikums, besonders der Frauen; in der Thomaskirche genossen wir die Motetten - man konnte aus dem Vollen schöpfen! Nun war ich endlich flügge; ich ging nach Weimar als Organist der Herderkirche und Lehrer an der Großherzoglichen Musikschule. Diese Jahre bis zum Ausbruch des Kriegs 1914 waren wohl die unbeschwertesten und sorglosesten meines Lebens.

Weimar, eine Kleinstadt, hatte das Kunstleben einer Großstadt. Dann aber fuhr wie ein Donnerschlag der Krieg in diese Idylle und machte einem ganzen Zeitalter, ja dem ganzen bürgerlichen Jahrhundert ein jähes Ende. So folgte ich gerne einem Ruf nach Stuttgart, der mich in meine Heimatstadt zurückführte: der sehr gute Organist der Markuskirche, Adolf Benzinger, war gefallen, ich sollte sein Nachfolger werden. So kam ich 1916 nach Stuttgart zurück, wurde bald darauf eingezogen, und stand bis zum Ende des Krieges im Heeresdienst. Die Stimmung am Ende des ersten Weltkriegs war eine wesentlich andere als zu Ende des zweiten: man suchte einen geistigen Neubeginn, die bürgerliche Kultur der Vorkriegszeit wurde bitter kritisiert und verurteilt. In der Musik bedeutete das eine Abkehr von der bis dahin dominierenden klassisch-romantischen Musik, eine Wendung nach zwei Richtungen: nach rückwärts und nach vorne. Nach rückwärts: man entdeckte die alte Musik. Bis dahin waren die Komponisten des 17. Jahrhunderts eben Vorläufer von Bach und Händel gewesen, sie wurden mit dem Erscheinen dieser beiden Meister überflüssig. Nun entdeckte man ihre Eigenbedeutung. Insbesondere die Musik von Heinrich Schütz, die so lange in den Bibliotheken geschlummert hatte, wurde zu neuem Leben erweckt, die Schönheit der alten Barockorgeln wurde neu gesehen und die Fabrikorgeln des 19. Jahrhunderts verurteilt: es gab eine Singbewegung, eine Orgelbewegung, eine liturgische Bewegung, - wer diese Zeiten miterlebt hat, wer damals Singwochen mitgemacht hat, der weiß von dem hohen Idealismus, von dem das alles getragen war.

Hand in Hand damit ging ein außerordentlicher Aufschwung der Musikwissenschaft. Sie bemühte sich um die wissenschaftliche Grundlegung dessen, was praktisch musiziert wurde. Ich war nach dem Krieg Dozent für Musikgeschichte und Musiktheorie an der Technischen Hochschule in Stuttgart geworden, bald darauf auch Lehrer für Orgel und Tonsatz an der Württembergischen Hochschule für Musik. Das alte Konservatorium hatte seine frühere Abteilung B (Dilettanten-Abteilung) abgetrennt und sich zum Rang einer Württembergischen Hochschule für Musik erhoben. So entschloß ich mich, mit fast vierzig Jahren noch an der Universität Tübingen in Musikwissenschaft den Grad eines Doktors nachzuholen. Ich tat das mit einer Arbeit über "Die musikalische Artikulation, besonders bei Johann Sebastian Bach", eine Arbeit, die trotz aller Unvollkommenheit doch eine gewisse Wirkung machte, weil das Gebiet bis dahin noch wenig erforscht war, und - weil Musik und Musikwissenschaft damals noch mehr Zusammenhang hatten als es leider heute der Fall ist. Man spricht heute viel von den "goldenen Zwanziger Jahren", in denen neue Ideen propagiert und diskutiert wurden, in denen alles im Fluß war. Auch Stuttgart erhielt damals neuen Auftrieb, in der Oper durch Fritz Busch, in der Musikhochschule durch Wilhelm Kempff, beides junge geniale Künstler, die leider Stuttgart schon nach wenigen Jahren wieder verliessen. Von modernen Komponisten stand damals Hindemith an der Spitze, während Strawinsky und Bela Bartok noch nahezu unbekannt waren. Für mich war es eine zweite glückliche, fruchtbare Zeit. Ich war Dozent an zwei Hochschulen, meine Abendmusiken in der Markuskirche hatten eine große Zuhörerschaft, dazu kamen Vorlesungen an Volkshochschulen, die in diesen Jahren gegründet wurden und aufblühten, ich wurde Mitarbeiter des Bärenreiterverlags, bei dem ich Neuausgaben alter Musik und anderes herausbrachte, ich hatte vier Söhne, ein reiches geselliges Leben. All das wurde in Frage gestellt, teilweise zerstört, als Hitler die Macht übernahm. An der Technischen Hochschule war für Vorlesungen über Musik kein Interesse mehr, die Musikhochschule wurde verstaatlicht, zwar wurde ich gerade noch mit übernommen, aber ich mußte mein Amt als Leiter der Abteilung für Schulmusik niederlegen, meine Frau starb, von meinen vier Söhnen fielen drei im zweiten Weltkrieg, der vierte wurde schwer kriegsbeschädigt, - aber was hatte das alles zu sagen gegenüber dem unendlichen Elend, das dieser Krieg über Millionen von Menschen brachte! Doch ich konnte einen neuen Hausstand gründen und habe wieder vier Kinder, mit denen ich "ein Concert instrumentaliter (leider nicht vokaliter) formieren kann". Das Kultusministerium berief mich zunächst als kommissarischen, dann als etatsmässigen Direktor der von Grund aus neu aufzubauenden Hochschule für Musik. Es war ein Neubeginn, ein Wiederaufbau auf allen Lebensgebieten, meine dritte glückliche Periode!

Ein Bild dieser Zeit zu entwerfen - von der R-Markzeit bis zur Währungsreform, dann den Wiederaufstieg der westlichen Hälfte des geteilten Deutschlands, die unvorstellbaren Fortschritte der Wissenschaft und Technik - kann ich mir ersparen, das alles hat ja jeder von uns miterlebt.

Im Jahr 1945 standen wir wirklich an der Schwelle eines neuen Weltzeitalters, in dem wir jetzt mittendrin stehen und gerne etwas mehr davon begreifen möchten, als es uns möglich ist, da unser Horizont zu begrenzt ist.

Also doch: Wer nicht mindestens 300 Jahre lebt . .. Wer sich von der Zeit nicht einfach treiben läßt, wer nicht "gelebt wird", sondern selbst leben möchte, der ist aber doch gezwungen, sich Gedanken über die Zeit zu machen, Vergleiche anzustellen. Beschränken wir uns auf die Musik. Hört man die ersten atonalen Werke von Schönberg, die schon 1909 (man denke!) komponiert wurden, dann meint man, der Fortschritt bis 1965 sei nicht allzugroß.

Überblickt man das öffentliche Musikleben, die Symphonie-Konzerte, die Meisterkonzerte usw., so sind die Programme nicht viel anders als vor 1914. Nur die technische Perfektion ist gewaltig gestiegen. Anders ist es mit der alten Musik. Vor 1914 war Bach "alte Musik", in den zwanziger Jahren war es Schütz, heute ist es die Musik der Gotik und der Früh-Renaissance. Die großen Umwälzungen liegen auf anderem Gebiet: in der Massenverbreitung der Musik jeder Art durch Rundfunk und Schallplatte. Sie ist teils übertrieben positiv, teils übertrieben negativ gewertet worden. Sie stellt den Musiker vor die Frage, was sein eigenes Musizieren noch für einen Wert, für eine Bedeutung habe? Wir haben heute (etwa in Stuttgart) weniger Konzerte als vor fünfzig Jahren, obwohl die Stadt heute mehr als doppelt so viel Einwohner hat, aber wir haben fast nur gute und sehr gute Konzerte - gegenüber vielem Mittelmässigem, das sich in meiner Jugend behaglich entfalten durfte. Während damals die "persönliche Note", die "individuelle Auffassung" des Künstlers hoch geschätzt war, und wir Schüler eifrig über diese Verschiedenheiten der Interpretation debattierten, sind wir heute schon gegen geringe Abweichungen von der Standardauffassung, wie sie Schallplatte und Rundfunk vermitteln, mißtrauisch geworden. Das ist einerseits gut: es gibt keine groben Fehlleistungen mehr, andererseits schade, denn die absolute Perfektion würde auch eine Entseelung der Musik bedeuten. Steigen wir einige Stufen herab zur Unterhaltungsmusik, der U-Musik, wie sie im kaufmännischen Verkehr der Produzenten kurz genannt wird, so sehen wir, daß dieses Gebiet sich seit den Zeiten meiner Jugend ungeheuer ausgebreitet hat. Diese Musik beherrscht heute die ganze Welt, auch Asien und Afrika. Als ich vor vier Jahren in Japan war, wurde ich im Hotel, in Warenhäusern usw. mit "soft music" berieselt wie in Amerika und Europa. Ein Mensch, der dem täglich ausgesetzt ist oder sich hingibt, ist kaum mehr im Stande, mitdenkend eine Sonate oder Symphonie aufzunehmen. Aber ich will nicht moralisieren. Ich bewundere unsere Zeit, die fast unvorstellbaren Fortschritte im Verkehr, in der Technik, in Physik, Chemie, Biologie, überhaupt die Dynamik und den Rhythmus unseres Lebens. Dieselbe Ausweitung sehe ich in der Musik unserer Tage: sie beherrscht tatsächlich die ganze Welt, auch die farbigen Rassen haben sie übernommen, und bei uns ist sie dank Rundfunk und Schallplatte allen Volksgenossen ohne Unterschied zugänglich geworden, während sie in meiner Jugend noch ein Vorrecht der sogenannten gebildeten Stände war. Heute ist das Angebot so groß, daß die entscheidende Frage für Jeden ist: was und wieviel er auswählen soll, wieviel er geniessen kann, ohne sich den Magen zu verderben. Wenn ich nach einem modernen Autor Goethe lese, ist es mir, wie wenn ich Mozart spiele, nachdem ich eben im Rundfunk Strawinsky oder Bartok gehört habe, die ich beide hoch verehre. Erst beides zusammen macht den unerhörten Reichtum unseres Lebens aus.

Ich habe vor fünf Jahren an dieser Stelle gesagt: die Sonne scheint um fünf Uhr Nachmittags so warm wie um 9 Uhr morgens, - aber sie scheint von der anderen Seite. Ich bin dankbar, daß sie mir immer noch scheint, und daß ich etwas von dem, was ich empfangen durfte, an andere weitergeben darf.

Quelle:
Süddeutscher Rundfunk, 19.11.1965