Echt oder Unecht? - I
Süddeutscher Rundfunk, 15. 5.1963
Streitfragen über die Autorschaft von musikalischen Werken
Echt oder unecht, das ist hier die Frage, möchte man frei nach Hamlet ausrufen. Warum spielt diese Frage denn in der Kunst eine so große Rolle? Bei einem 100 Mark-Schein ja, da ist es wichtig, ob er echt oder unecht ist, aber bleibt ein Werk nicht dasselbe, egal, was für ein Name drunter steht? Ja und nein, - wir erinnern uns alle an das ungeheure Aufsehen, das vor einiger Zeit in der ganzen Welt der (inzwischen beigelegte) Streit um die Echtheit des Rembrandt-Bildnisses erregte, das die Stuttgarter Staats-Galerie angekauft hatte. Da betrug die Differenz mehr als 1 Mill. Mark, je nachdem, wie die Frage der Echtheit entschieden wurde. Nun kann man sagen: das sind eben die Börsenwerte großer Kunstwerke, die mit ihrem wirklichen Wert nicht identisch sind. Sie können steigen und fallen wie Aktien. Aber worin beruht dann der wirkliche Wert? Nehmen wir ein anderes Beispiel: vor einigen Jahren hat ein Fälscher Bilder des holländischen Malers Vermeer so täuschend nachgemacht, daß selbst die Experten sich - wenigstens eine Zeit lang - täuschen ließen. War dann der Fälscher nicht ein ebenso großer Künstler wie der Maler selbst, dessen Stil er kopiert hatte? Oder, um zur Musik überzugehen: wenn ein heutiger Musiker den Stil eines älteren Meisters so täuschend nachmacht, daß auch die Fachleute die Täuschung nicht erkennen, haben wir dann nicht von dem betreffenden Meister ein Werk mehr? Und wenn schon die Fachleute oft ratlos sind, was soll man dann vom Publikum verlangen? Man hat ja das Experiment gemacht, in einer großen Gemäldegalerie alle Namensschilder zu entfernen, und dann die Besucher bestimmen zu lassen, was sie für die bedeutendsten Werke halten. Das Ergebnis war niederschmetternd: hübsche Bilder von Malern minderen Ranges wurden den Meisterwerken weit vorgezogen. Und ist es nicht in der Musik ebenso mit der Suggestion großer, berühmter Namen? Wer würde wagen, ein Werk langweilig zu finden, wenn der Namen Johann Seb. Bach dahinter steckt? Wäre es aber der Name eines unbekannten kleinen Komponisten aus der Zeit Bachs, so würde man leicht das Urteil riskieren können, es sei doch recht langweilig und unbedeutend. Man stelle sich einmal vor, was geschehen würde, wenn bei den Konzerten nur die Werke genannt, die Namen der Komponisten aber weggelassen würden? Wie anders (und manchmal richtiger!) würden die Urteile dann ausfallen!
Wir müssen bei der Behandlung unserer Frage zwei Fälle von einander scheiden; der 1. betrifft Stilkopien nach großen Meistern, der zweite (interessantere) ist gegeben, wenn das Werk eines kleineren Komponisten unter dem Namen eines großen Meisters überliefert ist. Zum 1. Fall ist zu sagen: daß wir bei der heutigen genauen Kenntnis des Stils und Technik älterer Komponisten bei einiger Geschicklichkeit leicht eine Stilkopie herstellen können. Ich kannte einen Musiker, der imstande war, ohne Vorbereitung den 1. Satz eines Klavierkonzerts im Stil von Mozart mit Tutti und Solo täuschend echt zu improvisieren. Ich selbst habe einige unvollendete Orgelstücke Bachs ergänzt und herausgegeben, und konnte feststellen, daß beim bloßen Hören auch die Fachleute nicht immer die Nahtstelle herausfanden, wo das Original aufhörte und die Ergänzung begann. Viel schwieriger ist die Frage, ob ein mit zweifelhafter Beglaubigung überliefertes Werk einem großen Meister, etwa Bach, oder einem seiner Schüler oder Zeitgenossen zugeschrieben werden müsse. Es gibt ja auch bei den großen Meistern schwächere Werke, besonders aus ihrer Jugendzeit, und es gibt bei den kleineren Komponisten Glücksfälle, in denen ihnen ein ausgezeichnetes Werk gelungen ist, dessen sich auch ein großer Meister nicht zu schämen brauchte. Diese kleineren Meister werden aber dann nicht des Ruhms teilhaftig, den sie verdienen würden, und den die Fachwelt den Werken der anerkannten Meister ohne weiteres zubilligt, auch wenn diese Schwächen aufweisen, die Jeder sieht. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Lukas-Passion, die in der Handschrift Bachs überliefert ist und lange Zeit als ein Werk Bachs galt, obwohl der Verfassernamen fehlte. Es war aber im 18. Jahrhundert allgemeiner Gebrauch, sich Noten abzuschreiben, da Druckwerke selten und teuer waren, und man nahm sich dann, wenn die Noten nur für den eigenen Gebrauch bestimmt waren, nicht immer die Mühe, den Komponisten-Namen darüber zu setzen. So war es auch bei der Lukas-Passion. Bach brauchte ein Werk für den Karfreitag, und da er aus seiner eigenen Werkstatt nichts passendes auf Lager hatte, so schrieb er sich das Werk eines uns unbekannten Durchschnittskomponisten ab. Das wäre an sich nichts Bemerkenswertes, wenn nicht ein so profunder Bachkenner wie Philipp Spitta, auf Grund davon, daß das Werk in der eigenen Handschrift Bachs überliefert war, für die Echtheit eingetreten wäre, so daß es Aufnahme in die Ausgabe der Bachgesellschaft gefunden hatte. Aber schon Mendelssohn, dem die Handschrift vorgelegt wurde, bestritt aus inneren Gründen leidenschaftlich die Echtheit: "Wenn das von Sebastian ist, laß ich mich hängen! Das kann meinetwegen von Altnikel oder Junnikel sein (Anspielung auf Altnikol, den Schwiegersohn Bachs), aber niemals von Bach!" Nun ist heute die Unechtheit des Werks erwiesen, und es wird in der Neuen Bachausgabe nicht mehr erscheinen, und in die Anonymität zurücksinken, aus der es einige Jahrzehnte lang aufgetaucht war.
Wir wollen nun das eben Gesagte in einem Gang durch die Musikgeschichte durch Beispiele belegen. Wir beschränken uns heute auf das 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert kommen Streitfragen um die Echtheit musikalischer Werke kaum mehr vor, da sie in den meisten Fällen leicht und sicher zu entscheiden sind; in früheren Jahrhunderten tritt die Persönlichkeit des Komponisten so sehr hinter seinem Werk zurück, daß solche Fragen fast nur für den Fachmann, für den Forscher Interesse haben: ob eine Messe von Palestrina oder einem seiner besten Zeitgenossen ist, das ist eine Frage, die nur die Spezialisten angeht.
Im 18. Jahrhundert aber gibt es bei Bach, Händel, Pergolesi, Gluck, Haydn, Mozart, ja noch bei Beethoven (unter seinen Jugendwerken) zahlreiche strittige Fälle, die auch den Liebhaber der Musik interessieren dürften. Wir wollen heute mit kleinen Formen beginnen Lieder, Arien, kurze Klaveristücke; in der nächsten Sendung sollen dann größere Instrumentalwerke auf Grund von Stilkriterien auf ihre Echtheit geprüft werden. Wäre das eine Quiz-Sendung, dann würde ich zuerst die Komposition bringen, und die Hörer raten lassen; ich möchte aber doch lieber vorher ein paar Anhaltspunkte geben. So beginnen wir nun mit dem bekannten Arioso: "Dank sei dir, Herr", aus dem Oratorium "Israel in Ägypten" von Händel, einem seiner Meisterwerke. Die Israeliten sind den verfolgenden Ägyptern entronnen, haben das Rote Meer durchschritten, und nun singt eine Frauenstimme den Dankgesang für die wunderbare Errettung.
Dieses herrliche Stück erklang um die Jahrhundertwende zum 1. Mal in Berlin bei einer Aufführung des Oratoriums durch den Philharmonischen Chor unter Leitung von Siegfried Ochs. Der allgemeine Eindruck war, daß da der Musikwelt ein bislang unbekanntes Juwel Händelscher Arienkunst neu geschenkt sei, ein Stück, das in der ganzen Faktur, in der Einfachheit, dem Adel des Ausdrucks dem weltberühmten "Largo" aus der Oper "Xerxes" kaum nachstehet. Es wurde rasch populär, es gab Bearbeitungen aller Art, auch Schallplatten-Aufnahmen, und natürlich wurde Siegfried Ochs mit Fragen bestürmt, wo er dieses Stück her habe, in welcher Bibliothek er es aufgefunden habe? Ochs ist aber diesen Fragen beständig ausgewichen, so daß der Verdacht aufkam und sich immer mehr verstärkte, er selber habe dieses Arioso im Stil Händeis nachkomponiert. Als nach dem Tode von Ochs im Jahr 1929 sein musikalischer Nachlaß durchgesehen und gesichtet wurde, fand sich keine Vorlage für das Arioso vor, so daß heute mit annähernder Gewißheit angenommen werden kann, daß er es selbst komponiert hat. Er hat sich das Largo zum Vorbild genommen: die gleiche Taktart und Bewegung der begleitenden Harmonien, derselbe lang gehaltene 1. Ton der Melodie, - man darf sagen: Händel selbst hätte es nicht besser machen können! Es übertrifft in der Tat alle andern Sologesänge in "Israel in Ägypten"; so denken wir uns Händel! Siegfried Ochs hat ja bekanntlich in seinen scherzhaften Variationen über "Kommt ein Vogel geflogen" im Stil verschiedener Komponisten, gezeigt, daß er ein Meister der Stilkopie ist. - Aber seit es als sicher gilt, daß das Arioso nicht von Händel ist, kann es keine Schallplattenfirma mehr unter diesem Namen herausbringen, und unter dem Namen von Siegfried Ochs auch nicht, - denn wen interessieren schon Kompositionen des vor ein paar Jahrzehnten verstorbenen Chordirigenten Ochs?!
Der Kuriosität halber sei auch der umgekehrte Fall erwähnt, soweit er Händel betrifft: In der Gesamtausgabe der Werke Händeis, die der große Gelehrte und Idealist Friedrich Chrysander im 19. Jahrhundert in nicht weniger als 100 Bänden herausgegeben hat, enthalten die letzten Bände nur Werke von Komponisten, aus denen Händel abgeschrieben hat! Manches hat er wörtlich übernommen, wie er es gerade brauchte, Manches umgearbeitet, (man war ja in diesen Dingen damals nicht so penibel wie heute), hier hat nun Händel selbst das Gedankengut anderer Komponisten als sein eigenes ausgegeben, aber wer setzt sich für die Rechte dieser kleineren vor 200 Jahren gestorbenen Komponisten ein? Händel arbeitete bei dem großen Musikbedarf, den er in London zu befriedigen hatte, mit zwei Gehilfen, die nicht nur Noten schreiben, sondern, wenn's eilig war, auch selbst fehlende Stücke komponieren mußten; es war der Schwabe Christoph Schmid, auf englisch: Christopher Smith - und sein Sohn. Wer wollte da in allen Fällen entscheiden, was von wem war?!
Ganz besonders schwierig ist die Frage der Echtheit bei den meisten Jugendwerken von Bach zu entscheiden. Er hat diese Arbeiten - es sind meist Orgel- und Klavierwerke - oft gar nicht mit seinem Namen versehen, vielleicht weil er sie nur als Studienarbeiten ansah, und die meisten davon sind auch nicht in seiner Handschrift, sondern nur in Abschriften von Freunden und Kollegen auf uns gekommen, Abschriften die auch oft keinen Namen tragen oder nur den vieldeutigen "Bach" - und wieviel Bache gab es damals in Thüringen, die als Komponisten in Betracht kommen konnten! Dahin gehören z. B. die "Acht kleinen Präl.und Fugen" für Orgel, die uns später noch beschäftigen werden; heute soll ein anderes allbekanntes Sammelwerk auf seine Echtheit kritisch untersucht werden: das Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach.
Es wurde in den ersten Jahren von Bachs Leipziger Zeit angelegt; zu Anfang stehen 2 Partiten für Klavier (a-moll und e-moll), später noch die 1. und 2. frz. Suite und das 1. Präl. des W. Kl., Werke deren Echtheit natürlich feststeht, - aber sonst enthält das Notenbuch fast nur kleine, modische, leichte Stückchen für Anfänger im Klavierspiel. Man nahm im 19. Jahrhundert an, daß dieses reizende Hausmusikbuch, das uns einen so lebendigen Einblick in das Musikgut gibt, das in der Familie des Thomaskantors gepflegt wurde, ausschließlich Kompositionen des Vaters enthalte: die größeren, zum Teil recht schweren, seien für die Gattin A. M. bestimmt gewesen, die kleinen leichten für die heranwachsenden Kinder, denen Bach, um in ihnen die Freude an der Musik zu wecken, nicht eine zu schwere Kost zumuten wollte. Im Jahr 1906 gab Richard Batka im Kunstwartverlag das Notenbüchlein in einer hübschen Nachbildung des Originals heraus. Der Erfolg dieser Ausgabe war überraschend groß. Die kleinen Stückchen wurden bald überall gespielt, waren besonders im Anfängerunterricht beliebt (wie stolz war ein Kind, wenn es schon nach einem halben Jahr Unterricht Bach spielen durfte!), es gab Bearbeitungen für Blockflöten usw. Freilich war es den Fachleuten schon längst zweifelhaft, ob diese netten Stückchen von Bach selbst komponiert sein könnten. Für einige ließ sich der Verfasser inzwischen ermitteln, und als zur Aufnahme in die Neue Bachausgabe das Notenbuch unter das Seziermesser der Musikwissenschaft gelegt wurde, da blieb von Bach nicht mehr viel übrig. Für einen größeren Teil konnten die Söhne, Friedemann und Ph. Em. als Komponisten nachgewiesen werden (sie konnten also selber schon Stücke schreiben wie diese, von denen man annahm, daß sie an ihnen erst das Klavierspielen lernen sollten!), für Andere wurden unbedeutende Musiker aus der Gegend von Leipzig als Verfasser herausgefunden, und in der Tat: man brauchte kein Johann Seb. Bach zu sein um solche Kleinigkeiten zu erfinden. Ein Menuett von 16 Takten im 2. st. Satz, nur Mel. und Baß, hinzuschreiben, dazu brauchte man nicht einmal Musiker zu sein! Hat doch damals ein verbummelter Student mit Namen Scholze, mit größtem Erfolg eine Sammlung kleiner galanter Stücke und Lieder herausgegeben: "Die Singende Muse an der Pleiss". Er legte sich den Namen Sperontes bei, und die Sammlung erlebte mehrere Auflagen. So sind also die kleinen Stücke im Notenbuch der A. M. B. nicht vom Vater Bach komponiert. Aber unter seinem Namen sind sie in alle Welt hinausgesegelt, in seinem Namen sind sie gespielt worden und werden sie heute gespielt. Warum auch nicht? Wieder aber müssen wir fragen: würde sich irgend Jemand um sie bekümmern, wenn sie nicht diesen stolzen Namen getragen hätten? Man denke nur daran, wie wenig selbst die besten Kompositionen der Söhne Bachs über den engen Kreis der Fachwelt hinaus bekannt geworden sind und gespielt werden: etwa von Friedemann die 12 Polonaisen - ein ausgezeichnetes Werk -, und von Ph. Em., seine genialen Fantasien und Rondos? Aber diese unbedeutenden Stückchen werden von Tausenden und Abertausenden gläubig gespielt, weil man meinte, sie seien von Johann Sebastian!
Es stehen aber im Notenbuch der A. M. auch einige Einträge, bei denen die Entscheidung, ob Bach selbst der Komponist sei, nicht so leicht zu treffen ist. Da ist ein reizendes Liebeslied:
"Willst du dein Herz mir schenken,
so fang es heimlich an,
daß unser beider Denken
niemand erraten kann.
Die Liebe soll bei beiden
allzeit verschwiegen sein,
drum schließ' die größten Freuden
in meinem Herzen ein."
Das Lied trägt die Überschrift "Aria di Giovannini". Da man meinte, alles im Notenbuch müße von Bach sein, so folgerte der große Bachverehrer Zelter so: Giovannini sei die Verkleinerungsform von Giovanni, und Giovanni ist deutsch - Hans, Johannes, Johann, Giovannini also bedeute Hänschen, eine Koseform für Bachs Vornamen, vielleicht aus seinen ersten glücklichen Ehejahren mit A. M. ? Nun, nach dem was wir heute wissen, ist der Sachverhalt anders und viel interessanter. Es gab wirklich einen italienischen Musiker, der sich Giovannini nannte (ob er wirklich so hieß, und wie er wirklich hieß, weiß man nicht). Er war von Beruf Geiger, wurde aber einer der größten und berühmtesten Abenteurer des 18. Jahrhunderts, etwa wie Casanova oder Cagliostro. Er legte sich hochtrabende adlige Namen bei, unter denen er ganz Europa durchzog: als "Graf von St. Germain" wird er in der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts genannt, andere Namen, die er sich zulegte, waren: in Preußen "Chevalier Schöning", in Wien "Fürst Rákoczy", in England "Graf Welldone", in Frankreich "Graf St. Germain" oder "Mr. Beaupoel de St. Hilaire" usw. Wie kommt aber dieser internationale Gauner, der mit allen Wassern gewaschen war, in das musikalische Familienalbum des braven Thomaskantors Bach? Das weiß man nicht, es ist aber möglich, daß die Eintragung des Lieds erst erfolgte, als Ph. Em. schon in Berlin Hofcembalist bei Friedrich dem Großen war, wo er dem angeblichen Grafen vielleicht begegnet ist? Daß dieser der Verfasser des Lieds ist, wird dadurch erhärtet, daß in einer in London erschienenen Liedersammlung ein Lied steht, betitelt: "a favourite Song", für das als Komponist "Graf St. Germain" genannt ist, und dessen 1. Zeile mit unserem Lied fast genau übereinstimmt. Die Melodie hat die Anmut und den galanten, leicht empfindsamen Zug, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts letzte Mode war. Bach hätte sich dieses Liedes nicht zu schämen brauchen. Wenn er sich selbst, etwa in seinen weltlichen Kantaten, in diesem Stil versuchte, wurde es meist etwas steif, geziert und nicht natürlich genug.
Und doch hat Bach selbst auch ein wundersames Liebeslied komponiert, das ebenfalls im Notenbuch der Anna Magdalena steht:
"Bist du bei mir, geh' ich mit Freuden
zum Sterben und zu meiner Ruh.
Ach wie vergnügt
wär' so mein Ende, es drückten deine schönen Hände
mir die getreuen Augen zu".
Wie ganz anders ist dieses Liebeslied! Es spricht vom Tod, ein Gedanke, den die Lebemänner des 18. Jahrhunderts weit von sich wiesen, in dem aber der große Gotiker und Mystiker Bach beständig lebte, es verknüpft den Gedanken einer unzertrennbaren ehelichen Liebe mit dem eines christlichen Sterbens. Wir wissen nicht, wer den Text dazu gedichtet hat, wahrscheinlich war es Bach selber, der ja auch in der Johannes-Passion für einige Arien selbst den Text verfaßt hat; gewiß ist das keine große Dichtung, ich möchte sagen: er ist verschämt galant; welche Innigkeit in Text und Melodie, die hier eins geworden sind! Und nun noch ein Stück aus Anna Magdalenas Notenbuch, das ähnliche Empfindungen ausdrückt: es ist auch mit "Aria" überschrieben, aber ein reines Instrumentalstück im Charakter einer Sarabande. Es drückt, wie das eben zitierte Lied, zärtliche, bräutliche Liebe in einer dem Geschmack der Zeit angemessenen, anmutigen Verschnörkelung aus.
Das Notenbuch nennt keinen Verfasser-Namen, und doch kann kein Zweifel sein, daß diese Aria von Bach selbst ist. Denn wir bewundern ja darin nicht nur die zierlich geschwungene Melodie, sondern ebenso das Ebenmaß des Aufbaus und die nur Bach eigene zwingende Logik der Stimmführung. Noch mehr spricht für die Echtheit, daß Bach dieses Stück im Jahr 1742 seinen berühmten 30 Variationen, die er für Graf Keyserling schrieb, zu Grunde gelegt hat. Es sind die sogenannten "Goldberg-Variationen", so genannt nach dem Vorspieler und Sekretär des Grafen, Theophil Goldberg, der ein Schüler von Bach war. Der Graf, der an Schlaflosigkeit litt, wünschte sich - wie Forkel berichtet - von Bach etwas "sanftes und munteres", das ihn in seinen schlaflosen Nächten aufheitern könnte. Großartiger, als Bach das getan hat, konnte man diese Bitte nicht erfüllen, und ist es nicht fast selbstverständlich, daß er als Thema nur etwas von seiner eigenen Komposition gebrauchen konnte? Es mußte ein Thema sein, das schon im Keim alle Möglichkeiten enthielt, die er in 30 Variationen auszuführen gedachte, und wer von den Zeitgenossen hätte ihm ein solches liefern können?
Wir lassen nun das Notenbüchlein der Anna Magdalena beiseite und wenden uns Bachs Choralsätzen zu. Wenn man von "Bach-Liedern" spricht, so meint man meist die Choräle, die Bach für das Gesangbuch des Kantors Schemelli in Zeitz gesetzt hat. Es sind (zu insgesamt fast 6000 (!) Liedern) 69 Choralsätze für eine Singstimme und bezifferten Baß, die als "Bach-Lieder" sowohl im Kirchenkonzert wie in der häuslichen Andacht viel gesungen wurden und werden. Dabei wissen aber die Sänger und Hörer meist nicht, daß lediglich der harmonische Satz, das heißt die Bezifferung, von Bach selbst ist, die Melodien aber aus Gesangbüchern der Zeit zusammengestellt worden sind. Es ist also auch hier so, daß Musik aus dem bürgerlichen Barock Mitteldeutschlands, um die sich außer den Hymnologen kaum noch jemand kümmern würde, durch den Namen Bach noch einmal herausgehoben wurde und gläubig als "Bach" gesungen und angehört wird. Die Melodien selbst sind teilweise gut, teilweise mittelmäßig, die Texte zum Teil aber für uns heute kaum noch erträglich. Nur ganz wenige dieser Lieder gelten nach den Ergebnissen der Bachforscher Arnold Schering und Fred Hamel als echte von Bach selbst erfundene Melodien; unter diesen wenigen ist eine Melodie, ein Tonsatz von solcher Schönheit und Genialität, daß an Bachs Autorschaft kein Zweifel sein kann: das Lied: "Komm, süßer Tod". Es hat die feierliche Bewegung einer Sarabande, die Melodie sitzt dem Text wie angegossen, die Harmonie ist nicht weichlich und überladen wie in vielen geistlichen Liedern der Zeit, sondern einfach und würdig, der Text zu Herzen gehend, ohne die Geschmacklosigkeiten, die uns so oft den Genuß an den Kantaten und Passionen Bachs schmälern.
Auf dieses Lied mit dem Ausdruck einer geradezu mystischen Todessehnsucht möge nun als Gegensatz das zweite, unzweifelhaft echte Lied Bachs aus dem Gesangbuch Schemeliis stehen, "Dir, Dir, Jehovah, will ich singen". Die Weise, nach der das Lied heute noch in der Kirche gesungen wird, existierte schon einige Jahrzehnte, ehe Bach das Schemellische Gesangbuch bearbeitete, aber sie hat ihn offenbar nicht befriedigt; sie steht bekanntlich im 4/4-Takt, und die erste Zeile senkt sich von der Oktave zum Grundton herab; Bach erfindet nun eine neue Melodie im 3/4-Takt, im Tanzrhythmus, die mit einem geradezu überschwenglichen Ausdruck in die Höhe steigt.
Auch in das Notenbuch seiner Gattin Anna Magdalena hat er dieses Lied eingezeichnet, und zwar im 4-st. Satz. Er hat es also so hoch geschätzt, daß er es mit seiner Frau und den Kindern im 4-st. Chorsatz gesungen hat. Für den Gesang einer Gemeinde ist diese Melodie und der Satz freilich rhythmisch und in den Intervallschritten zu schwierig.
Wir verlassen nun für heute Bach und wenden uns Mozart zu. Da finden wir im Köchelverzeichnis unter der Überschrift "Zweifelhafte und untergeschobene Werke" über 100 Nummern angeführt! Darunter sind ganze Messen, Sinfonien, Quartette, dann Lieder, Kanons und so weiter, die sich - nicht alle, aber zum großen Teil - den Namen Mozart zu Nutze gemacht haben, um ein zugkräftiges Etikett zu haben. In anderen Fällen ist eine nachlässige Signierung daran schuld; so ist es bei manchen beliebt gewordenen Stücken in Bezug auf Mozart wie bei Bach und dem Notenbuch der Anna Magdalena. Insbesondere auf dem Gebiet, auf dem Mozart selbst am meisten dem flachen Zeitgeschmack verhaftet war, im Lied, sind falsche Zuschreibungen häufig und leicht verständlich. Es gibt ja eigentlich nur ein einziges geniales Lied von Mozart, "Das Veilchen", dessen Text Mozart in einem Taschenbuch fand und komponierte, ohne viel Ahnung zu haben, wer dieser "Goethe" eigentlich war. Er muß aber doch den Unterschied zwischen der echten Empfindung in diesem Gedicht und der galanten Empfindsamkeit des Zeitstils gemerkt haben, denn dieses Gedicht hat ihn so gepackt, daß er es als eine kleine dramatische Szene komponierte. Lange Zeit war ein anderes Lied Mozarts noch berühmter, oder sagen wir, beliebter: das Wiegenlied""Schlafe, mein Prinzchen, schlaf' ein". Mozarts Witwe Konstanze, später Frau von Nissen, schickte es im Jahre 1825 nach Offenbach an den Verleger Andre und schrieb dazu: "Ganz allerliebst, mehrfach kenntlich mozartisch, naiv, launig". Später kamen ihr aber Zweifel, und sie schrieb ein paar Jahre später an Andre, daß "hiesige Kenner der Musik, und namentlich Mozartischer, mir gesagt haben, daß sie dasselbe für Mozarts Arbeit halten, so wie es auch schon lange von Mehreren dafür gehalten worden ist".
Die Zweifel wurden bestätigt und alle Unsicherheit behoben durch einen Fund von Max Friedländer, der das Lied in einem Sammelband als ein Werk von Bernhard Flies fand. Flies war kein Musiker von Beruf, sondern Arzt in Berlin, also ein Dilettant. Aber die Melodie ist hübsch und besser als die meisten Kinderlieder, die wir aus dem Zeitalter der Aufklärung haben.
Quelle:
Süddeutscher Rundfunk, 15. 5.1963