Echt oder Unecht? - II

Süddeutscher Rundfunk, 12.06.1963

Wir haben vor 4 Wochen einen Gang durch die Musikgeschichte unternommen, bei dem wir einige auch für den Liebhaber der Musik reizvolle Fälle untersucht haben, bei denen Werke einem berühmten, großen Komponisten zugeschrieben wurden, ohne daß die Echtheit sicher erwiesen werden kann, oder die Unechtheit inzwischen festgestellt wurde. Diese Fragen sind deswegen interessant, weil in diesen Fällen der Ruhm und die Autorität eines großen Komponisten auch auf das Werk eines kleineren Meisters oder eines bewußten Nachahmers ausgestrahlt war, dessen Schwächen liebevoll verdeckte, - Schwächen die nach der Richtigstellung der Autorschaft dann umso unbarmherziger gesehen wurden. Da in der Kunst die Vorurteile die allein entscheidenden sind, so sind solche Fälle eine vortreffliche Gelegenheit, unser kritisches Hören zu schärfen und unser Stilgefühl zu verfeinern. Das gilt sowohl für die Fachleute wie für die Laien; die Geschichte zeigt, in wie vielen Fällen sich auch die Fachwelt durch einen großen Namen in ihrem Teil befangen werden ließ. Dazu kommen die Fälle von raffinierten Stilkopien, von denen wir in der letzten Sendung das Arioso "Dank sei dir, Herr" aus dem Oratorium "Israel in Ägypten" genannt haben, das Siegried Ochs im Stile Händeis täuschend echt nachkomponiert hat.

Auch heute wollen wir mit einer solchen Stilkopie beginnen. Im Jahr 1911 gab der berühmte inzwischen verstorbene Geiger Fritz Kreisler Bearbeitungen älterer Meisterwerke für Violine und Klavier heraus, die durch die ausgezeichnete Faktur der Bearbeitung, noch mehr aber durch den musikalischen Wert der hier zum ersten Mal bekannt gewordenen Stücke bald zum Repertoir der Laienspieler wie der konzertierenden Künstler gehörten. Das musikalisch bedeutendste und am meisten gespielte Stück war ein Präludium und Allegro von Gaetano Pugnani, einem italienischen Komponisten und Violinvirtuosen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, von dessen zahlreichen und damals hochgeschätzten Kompositionen heute nur noch sehr wenige bekannt sind und gespielt werden. Pugnani ist der typische Vertreter jener Übergangszeit zur Wiener Klassik, in der sich der strengere Stil des Barock schon erweichte, empfindsame Elemente auftraten, die bei Corelli und noch bei Tartini sich nicht finden. Bezeichnend dafür, wie deutsche Empfindsamkeit auch nach Italien übergriff, ist die Tatsache, daß Pugnani eine Programmsonate über Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther" geschrieben hat (das Werk selbst ist leider verloren). Als nun nach dem 1. Weltkrieg ein junger amerikanischer Musikologe über Pugnani arbeitete, fiel ihm die Diskrepanz des Kreislerschen Stückes und aller übrigen Werke Pugnanis auf, er setzte Kreisler so lange mit Fragen zu, bis dieser endlich gestand, daß er das Stück selbst im alten Stil komponiert habe, und den Namen eines heute wenig mehr bekannten Komponisten darüber gesetzt habe.

Es ist gewiß ein vorzügliches Stück, aber nach allem, was wir nun über Pugnani wissen, eben kein Pugnani, sondern viel eher eine Stilkopie nach Bach. Der große Orgelpunkt zu Anfang, die Art, wie Motive und Phrasen in Sequenzen fortgesponnen werden, - das alles ist uns von Bach her vertraut. Ja man kann sogar ein bestimmtes Vorbild nennen, das sich Kreisler wahrscheinlich genommen hat, die Bachsche Violinsonate in e-moll mit beziffertem Bass, die ebenfalls mit Passagen der Geige über einem langen Orgelpunkt über E beginnt. (Auch bei dieser Sonate Bachs steht die Echtheit nicht ganz sicher fest, da sie nur in einer einzigen Abschrift aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auf uns gekommen ist, - ich persönlich zweifle nicht daran, daß sie nur von Bach sein kann). Pugnanis Stil ist weiblich, der Stil von Kreislers Präludium und Allegro ist ausgesprochen männlich, - nur dadurch, daß die meisten Musiker von Pugnani nur den Namen kannten, konnte die Mystifikation solange unentdeckt bleiben. Man kann fragen: warum hat der weltberühmte Geiger das gemacht? Er hatte es doch nicht nötig, sich mit fremden Federn zu schmücken? Aber die Kompositionen, die er unter seinem eigenen Namen herausgab, haben längst nicht die Verbreitung und die Anerkennung gefunden wie seine angeblichen Bearbeitungen. Die um 1910 einsetzende und immer mehr wachsende Begeisterung für die ältere Musik hat auch diese Stilkopien erfaßt und emporgetragen, und nun haben sich diese angeblichen Bearbeitungen so eingebürgert, daß sie bleiben werden. Auf dem Titelblatt steht jetzt: Präludium und Allegro, dann mit ganz kleiner Schrift "im Stile von G. Pugnani".

Wir wenden uns nun einem andern noch interessanteren Fall zu. Es handelt sich um die jedem Musikfreund bekannte herrliche Fantasie in c-moll KV 396. Sie fällt in die Zeit der Stilwandlung, die Mozart in seinen ersten Wiener Jahren unter dem Einfluß von Johann Sebastian und Philipp Emanuel Bach erfuhr. Wie die Fantasie in d-moll (KV 397) wurde sie erst einige Jahre nach Mozarts Tod, ergänzt von Abt Maximilian Stadler, erstmals herausgegeben. Abt Stadler war ein hochmusikalischer Benediktiner, Zeitgenosse von Haydn und Mozart, mit beiden befreundet (nicht zu verwechseln mit dem Klarinettist Stadler, für den Mozart sein Klarinettenquintett schrieb). Er hat nicht weniger als 12 Werke Mozarts, die dieser unvollendet hinterlassen hatte, zu Ende geführt: Kirchenmusik, Fugen, einen Sonatensatz in B-dur für Klavier, er hat zu dem Menuett in D-dur, einem Werk aus Mozarts reifster Zeit ein Trio geschrieben, und er hat unsere Fantasie zu einem Sonatensatz ergänzt. Wenn wir sie heute hören, so wird es uns wohl schwer fallen, festzustellen, wo Stadlers Ergänzung beginnt.

Sie beginnt nämlich schon nach dem Doppelstrich, der in den klassischen Sonaten die Exposition abschließt, also die ganze Durchführung ist von Abt Stadler gänzlich frei komponiert, in der Reprise bringt er eine getreue Wiederholung der Exposition, mit der einzigen Änderung, daß man in c-moll bleibt und in C-dur schließt. Da in den im 19. Jahrhundert verbreiteten Ausgaben von einer Mitwirkung Stadlers an dem Werk nichts angegeben war, so haben wir es als echten Mozart aufgenommen, und dabei besonders die schon an Beethoven gemahnende Durchführung mit ihren leidenschaftlichen Rhythmen über den wogenden Harmonien bewundert. Das alles ist so genial, so sehr schien es uns der großen späteren c-moll-Fantasie ebenbürtig, daß wir den Gedanken, ein katholischer Geistlicher könnte das geschrieben haben, weit von uns gewiesen hatten. In seinen eigenen Kompositionen hat Abt Stadler dieses Niveau nirgends mehr erreicht. Hier hat ihn Mozarts Genius berührt und über sich hinausgeführt. Hier liegt der Fall anders als bei Kreisler, der einen längst abgeschlossenen Stil sich zu eigen macht, hier ist der zündende Funke unmittelbar übergesprungen. Man möchte versucht sein, an einige Fälle in der Literatur zu denken: an Suleika, d.h. Marianne von Willemer, die im Westöstlichen Divan sich mit einigen Gedichten Goethe an die Seite gestellt hat, oder Mathilde Wesendonck, deren Gedichte Wagner vertont hat.

Bei Beethoven ist die Frage der Echtheit und der Chronologie vieler seiner Bonner Jugendwerke noch weithin ungeklärt. Da sind die drei Jugendsonaten die der 12-Jährige dem Kurfürsten gewidmet hat, die schon viele Züge von Beethovens späterer Handschrift aufweisen; da sind die 24 Variationen über die Ariette von Righini "Vieni Amore", deren 1. Ausgabe verschollen ist, die er später, zur Zeit seiner 2. Symphonie, neu herausgegeben hat, und dabei - wie man heute weiß, nur ganz geringfügig geändert und verbessert hat. Sie zeigen einen so hohen Stand seines kompositorischen wie seines pianistischen Könnens, daß wir nur schwer glauben können, daß so farblose und durchschnittliche Kompositionen, wie zwei Rondos in C-dur und B-dur und ein paar Sonatinen-Entwürfe, auch in diese Zeit fallen sollen. Die zwei kleinen, viel gespielten Sonatinen in F-dur und G-dur kamen überhaupt erst zehn Jahre nach Beethovens Tod auf den Markt, eine Quelle ist nicht bekannt, es handelt sich dabei also sehr wahrscheinlich um unterschobene Kompositionen, bei denen der Verleger mit dem Namen Beethoven ein Geschäft zu machen hoffte. Daß zwischen den drei Kurfürsten-Sonaten und den 24 Variationen also für die Zeit des 13 bis 19-jährigen Beethoven, keine Sonate, auch kein anderes Klavierwerk sicher nachgewiesen werden kann, zeigt, auf wie unsicheren Füssen die stilistische Erforschung der Jugendwerke Beethovens noch steht. Man kann doch nicht annehmen, daß der Feuergeist Beethoven in diesen wichtigsten Entwicklungsjahren nichts für sein Lieblings-Instrument komponiert habe. Eher ist es wahrscheinlich, daß eine größere Zahl von Jugendwerken als wir bis heute wissen, in Wien umgearbeitet, umgeschmolzen wurde, und Eingang in die frühen Sonaten von op. 2 bis op. 14 gefunden hat.

Wenn bei den Jugendwerken begreifliche Gründe sich anführen lassen, warum die Überlieferung so wenig gesichert ist, Gründe, die besonders auch in den zerrütteten Familien-Verhältnissen der elterlichen Familie liegen, so ist es eigentlich erstaunlich, daß auch bei Beethovens Tod im Jahr 1827, trotz seines Weltruhms im Nachlaß manches verschleudert wurde und auch da Fragen auftauchen, die heute, mehr als ein Jahrhundert später, nicht leicht zu lösen sind. "Beethovens letzter Gedanke" ist sicherlich nicht von ihm, und um seine einzige bedeutende nachgelassene Komposition für Klavier, "die Wut über den verlorenen Groschen", ein Rondo a Capriccio, das als op. 129 erschien, bestehen heute noch Meinungsverschiedenheiten sowohl über die chronologische Einordnung des Werks wie über seinen Titel und die Textfassung. Die hohe opus-Zahl verleitete dazu, das Werk in die Nähe der letzten Sonaten, Bagatellen und der Diabelli-Variation zu stellen, mit mehr Recht ist es aber in die Zeit der ersten Wiener Schaffenszeit, also etwa auf die Zeit um 1800 zu datieren. In ein neues Stadium kam die Frage, als in den USA die Skizze eines MS. zu Tage kam, die (soweit sie ausgeführt ist), mehrfache Abweichungen von der gedruckten Fassung zeigt. Auch der Titel ist anders: Rondo all Ongharese. (Also etwa eine Anlehnung an Haydn, z.B. den Schluß-Satz seines Klaviertrios in G-dur). Wer aber sollte den Titel erfunden haben, der das Stück so populär gemacht hat? Etwa der korrekte Czerny oder der trockene Famulus aus Beethovens letzten Jahren, Anton Schindler? Eine Fußnote der Originalausgabe besagt: "Dieses im Nachlasse L. von Beethovens vollendet vorgefundene Capriccio ist im MS. folgendermaßen betitelt: "Die Wut über den verlorenen Groschen". Ich halte es daher für sicher, daß die in den USA aufgefundene Skizze in Wien ausgearbeitet wurde und diese Endfassung, die verschollen ist, der Originalausgabe zu Grunde gelegen hat. Auch der Titel kann nur von Beethoven selbst stammen; es ist der skurrile, manchmal unheimliche Humor, der gerade in seiner letzten Schaffenszeit in so vielen Briefen, etwa an seinen Verleger Haslinger, sich ausspricht. Wir brauchen also nicht zum Rondo auf ungarische Art zurückkehren, sondern können den verbissenen Humor des rein musikalisch ja gar nicht sehr bedeutenden Stücks als "Wut über den verlorenen Groschen" auch weiterhin genießen.

Hier betraf also die Frage der Echtheit nur die Überlieferung, nicht das Werk selbst: es gibt aber eine Reihe von Transkriptionen, bei denen man bis heute nicht weiß, ob sie von Beethoven selbst stammen oder unter seiner Aufsicht oder gar unter seiner Billigung gemacht worden sind. Die Zeit um 1800 war außerordentlich musikfreudig. Auf die Originalgestalt legte man bei weitem nicht den Wert, wie wir heute. Es gibt von Sätzen aus Klaviersonaten Beethovens eine ganze Anzahl von Transkriptionen: Adagio-Themen wurden zu Liedern mit Klavierbegleitung umgeschaffen oder für Chor gesetzt, ein Thema erlebte sogar eine Bearbeitung für 2 Gitarren! Liszt ließ in einem Konzert in Paris den 1. Satz der cis-moll-Sonate (der sog. Mondschein-Sonate) von einem Streichquartett spielen, und spielte darauf den 2. und 3. Satz auf dem Klavier. Man stelle sich Derartiges heute im Zeitalter der Urtextausgaben vor! Zwei seiner großen und rasch berühmt gewordenen Werke hat Beethoven selbst übertragen: das Septett op. 20 und die 2. Symphonie op. 36 hat er für Klaviertrio gesetzt, und beide Werke sind in dieser Gestalt im 19. Jahrhundert noch lange von den Verlegern geführt worden. Verliert aber nicht jedes Werk einen Teil seiner "Echtheit" (wenn man so sagen darf) bei einer solchen Umsetzung?

Quelle:
Süddeutscher Rundfunk, 12.6.1963