Echt oder Unecht? - III
Süddeutscher Rundfunk, 17.07.1963
Die Frage nach der Echtheit eines musikalischen Kunstwerks kann nicht mit der gleichen Sicherheit mit Ja oder Nein beantwortet werden wie bei Werken der bildenden Kunst. Ist z.B. ein Werk noch dasselbe, wenn es - vom Komponisten selbst oder von einem anderen Musiker - für andere Instrumente bearbeitet, oder wie man im Musiker-Jargon sagt "arrangiert" worden ist? Wenn Bach der Musik zu einer weltlichen Kantate einen kirchlichen Text unterlegte, welche Fassung ist dann echt? Und bei der Wiedergabe: Wenn ein Herausgeber oder ein Solist alte Musik mit allen Vortragszeichen neuerer Musik versieht, wenn er - wie Eugen d' Albert sich ausdrückte: "Bach mit einer Chopinschen Sauce piquante übergießt", ist das dann noch ein echter Bach? Gewiß nicht. Wenn ein Sänger ein Schubertlied, das für Tenor geschrieben und gedacht ist, in der Baßlage singt, wenn eine Altistin ein Liebeslied, das einem Mann in den Mund gelegt ist, singt (und wie oft geschieht das!) ist dann das noch das echte Schubertlied? Fragen über Fragen, die oft nicht mit einem entschiedenen Ja oder Nein beantwortet werden können, es gibt da viele Übergänge und viele Entscheidungen hängen nur von unserer mehr oder weniger großen Feinfühligkeit und Stilempfindlichkeit ab. Wir haben in den beiden ersten Sendungen auch die Frage der Stilkopien behandelt, die so täuschend sein können, daß auch Fachleute Opfer dieser Täuschung werden konnten.
Heute wollen wir uns nur mit einem Meister befassen, aber mit einem, bei dem viele Fragen der Echtheit noch ungelöst sind, mit Josef Haydn. Sein Lebenswerk ist so groß, seine Manuskripte sind so weit verstreut, daß erst in unseren Tagen eine verlässliche Gesamtausgabe seiner Werke in Angriff genommen werden konnte. Erst heute besitzen wir ein chronologisches Verzeichnis wenigstens seiner Instrumentalwerke, an dem der Herausgeber, Anthony van Hoboken, 30 Jahre gearbeitet hat. Und erst in unseren Tagen konnte eine Frage endgültig geklärt werden, die die Musikwelt Jahre lang beschäftigt hat: die Frage nach der Echtheit des berühmten und vielgespielten Cello-Konzerts in D-dur von Haydn. Die immer wieder erhobenen Zweifel an der Echtheit dieses Meisterwerks gründeten sich auf zweierlei: 1.) eine Notiz in dem 1837 erschienenen Tonkünstler-Lexikon von Schilling, in der die Behauptung aufgestellt wurde, nicht Haydn, sondern der Solo-Cellist der Kapelle des Fürsten Esterhazy, Anton Kraft, sei der Komponist. Der zweite Zweifel entstand wegen der außerordentlich hohen Lage und virtuosen Führung der Cello-Partie, die für Haydns Zeit etwas durchaus Ungewöhnliches war und die in keinem anderen Werk von ihm ähnlich vorkommt. Nun, der 1. Zweifel ist inzwischen behoben worden: das Autograph, das über 50 Jahre verschollen gewesen war, ist inzwischen wieder zum Vorschein gekommen. Es befindet sich in der Österreichischen National-Bibliothek in Wien. Mit ihm stimmen die Erstausgaben des Konzerts überein, die schon zu Lebzeiten Haydns erschienen waren: die 1. erschien 1803 in Paris, die 2. 1806 bei Andre in Offenbach. Die Orchesterbesetzung ist: Streicher, 2 Oboen und 2 Hörner. Der 2.) Einwand gegen die Echtheit läßt sich (wenn überhaupt nötig) dadurch widerlegen, daß Haydn das Werk für den ihm befreundeten Solocellist seiner Kapelle Anton Kraft verfaßt und ihm auf den Leib geschrieben hat. Wahrscheinlich wollte Kraft ein Konzert haben, in dem er zeigen durfte, was er konnte (ähnlich wie Bach in Cöthen das 5. Brandenburgische Konzert für sich selbst geschrieben hat, um damit als Cembalist zu glänzen). Kraft muß demnach ein vorzüglicher Künstler gewesen sein, denn die hohen und höchsten Lagen des Cellos waren erst kurz vorher durch Boccherini in Madrid und Duport in Berlin erschlossen worden. Erst mit Hilfe des Daumenaufsatzes war es dem Cellist möglich gemacht, sich in der Violinlage zu bewegen und Doppelgriffe und rasche Passagen in dieser Lage zu spielen. Beethoven wendet diese Technik zum 1. Mal in seinen beiden Cellosonaten op. 5 an, die er 1796 für Duport geschrieben und dem preußischen König gewidmet hat, Mozart macht von ihr noch gar keinen Gebrauch (wie es ja überhaupt merkwürdig ist, wie gering sein Interesse für das Cello war), und Haydn konnte in seinen Streichquartetten dem Cellisten auch nicht das zumuten, was Anton Kraft offenbar "spielend" bewältigt hat. Eine 3. Unsicherheitsquelle sahen die Musiker darin, daß ihnen das Konzert nur in Bearbeitung aus dem 19. Jahrhundert bekannt war. Der belgische hochverdiente Direktor des Brüsseler Konservatoriums, Gevaert, gab 1890 eine Bearbeitung des Konzerts heraus, in der er zu den zwei Oboen und Hörnern Haydns, noch je zwei Flöten, Klarinetten und Fagotte zusetzte, im 1. Satz Kürzungen vornahm, und dem letzten Satz noch einen wirkungsvolleren Konzertschluß zufügte. - Da kann man nun wirklich nicht mehr von "Echtheit" sprechen! Zu dieser Überarbeitung fügten dann die Cellovirtuosen in allen drei Sätzen große, oft recht stillose Kadenzen hinzu, so daß man vor lauter Schminke das wahre Gesicht Haydns kaum mehr erkennen konnte. Heute sind wir natürlich zur Originalgestalt zurückgekehrt: Ohne Kürzungen, ohne Instrumentationszusätze, ohne Konzertschluß. Und wenn wir diese Fassung kennen, ist die Frage, ob dies ein begabter, sagen wir, ein sehr begabter Orchestermusiker geschrieben haben könnte, absurd. Man könnte wohl einem versierten Musiker die Begabung, so etwas zu schreiben, zutrauen, aber wieviele Kompositionen und Kompositionsversuche hätten vorausgehen müssen, damit ein Werk entstehen konnte, das formal und dem Gehalt seiner Themen nach die Stufe erreichen konnte, auf der dieses Cellokonzert steht!? Wir wissen ja nicht, aus welcher Schaffensepoche Haydns das Werk stammt, aber seiner Tonsprache, dem Reichtum und Adel seiner Gedanken nach, kann es nur aus Haydns Meisterzeit stammen. Es muß in dem Jahrzehnt zwischen 1780 und 1790 geschrieben worden sein, nicht später, da Haydn ja dann nicht mehr Kapellmeister in Esterhaz war, aber auch nicht früher, weil es deutliche Spuren einer Begegnung mit Mozarts Genius trägt. Ich würde beim ersten Hören und ohne zu wissen, wer der Komponist ist, urteilen, daß es ein bedeutender, Mozart nahestehender Musiker gewesen sein müsse, denn die Süßigkeit der Melodie, die italienischer Herkunft ist, finden wir sonst bei Haydn nicht, aber für Mozart ist sie ein sicheres Erkennungszeichen. Ja sogar das Schluß-Rondo, in dem Haydn in seinen Symphonien und Quartetten oft einen lustigen Ton anschlägt, ist hier kantabel, vielleicht dem Cello zuliebe? Mozart hat ja in der Vorrede zu den 6 Haydn gewidmeten Streichquartetten in rührender Weise bekannt, was er von dem älteren Meister gelernt habe, - was Haydn von Mozart gelernt hat, das zeigen Werke wie dieses Cello-Konzert. Es überragt die übrigen Konzerte, die Haydn für Klavier, für Violine, für Blasinstrumente geschrieben hat, bei weitem, ebenso die Cello-Konzerte von Boccherini, die wohl technisch ähnliche Anforderungen stellen wie Haydn, deren Gehalt aber sich mit dem Haydns nicht vergleichen läßt. Dieses Konzert hat der große Symphoniker Haydn geschrieben, der seinen Stil in einer langen, über Jahrzehnte sich erstreckenden Entwicklung zur Reife gebracht hatte. So sind also alle äußeren und inneren Bedenken, die gegen die Echtheit des Cellokonzerts von Haydn geäußert worden sind, hinfällig und wir können uns ferner mit gutem Gewissen seiner Schönheiten erfreuen.
Viele Fragen der Echtheit sind bei den Symphonien Haydns noch zu klären. Wir kennen 104 zweifellos echte Symphonien von Haydn, eine sehr hoch erscheinende Zahl, müssen aber bedenken, daß sich diese Reihe über Jahrzehnte erstreckt, und daß Haydn als Kapellmeister gezwungen war, für den Tagesbedarf des fürstlichen Hofes zu komponieren. Neben diesen 104 als echt nachgewiesenen Symphonien sind in dem Buch von Robbins Landon "Die Symphonien Haydns" noch 133 Symphonien aufgeführt, die Haydn zugeschrieben wurden, wogegen andere Quellen andere Verfasser-Namen tragen, und sehr wahrscheinlich mit mehr Recht. Da finden wir Namen wie Dittersdorf, Holzbauer, Hoffmeister, Pleyel, Klug, Konzeluch u. a., bekannte und unbekannte. Es handelt sich dabei samt und sonders um Werke, die, wenn sie von Haydn sein sollten, nur aus seinen Lehrjahren stammen könnten, aus einer Zeit, in der er die Zeitgenossen noch nicht so weit überragte, wie das später, etwa ab 1770, der Fall war. So ist also das Interesse, das der Musiker und der Musikfreund an der Zuordnung dieser Werke nimmt, nicht allzu groß, doch zeigt die Zahl der zweifelhaften Werke, wie hoch damals das Kompositionsniveau war, daß also ein Dutzend oder mehr Komponisten etwa ebenso komponieren konnten wie Haydn in seinen Anfängen und bis in seine mittlere Periode hinein. Das Interesse für diese Fragen verstärkte sich, als vor etwa 30 Jahren der angesehene Musikgelehrte und Beethovenforscher Adolf Sandberger eine ganze Anzahl Symphonien, die er aufgefunden hatte, glaubte Haydn zuschreiben zu können, während ihr wirklicher Komponist ein heute längst vergessener, damals aber geschätzter Musiker war: Johann Baptist Wanhal, ein jüngerer Zeitgenosse Haydns aus Böhmen, der bei Dittersdorf und in Italien gelernt hatte, und von dessen zahlreichen Werken Haydn öfters etwas in Esterhaz aufführte.
Noch ein anderes volkstümlich gewordenes Werk muß Haydn abgesprochen werden: die Kinder-Symphonie. Der reizende Gedanke, daß Kinder mit ihren primitiven Instrumenten sich zusammentun, um eine Symphonie aufzuführen, wäre Haydn durchaus zuzutrauen, aber das Werk ist in Salzburg oder in der Gegend von Salzburg entstanden, und dort lebte sein jüngerer Bruder Michael Haydn als Domorganist. Eine andere Quelle schreibt die Kindersymphonie Leopold Mozart zu, dem Vater von Wolfgang der ein Kollege von Michael Haydn war, und eine "Musikalische Schlittenfahrt" und andere mit Humor gewürzte Werke geschrieben hat; eine 3. Quelle nennt einen Musikdirektor aus Berchtesgaden als Verfasser. Wer von diesen dreien der Komponist der köstlichen kleinen Symphonie war, wird sich nicht mehr mit Sicherheit ermitteln lassen, - sicher ist nur, daß es Josef Haydn nicht war. Die Besetzung ist: 3 Streichinstrumente, nämlich 2 Violinen und Baß, denen die eigentliche Musik anvertraut ist, dazu tritt eine Trompete, die aber nur einen Ton zu blasen hat, Kuckucksruf, Nachtigall, Wachtel, Trommel, Triangel und Knarre (Ratsche).
Die Form einer Symphonie ist bei den einfachsten Anforderungen eingehalten: Allegro, Menuett mit Trio und ein Finale, das 3 mal gespielt werden soll: zuerst massig lebhaft, dann schneller, und beim 3. Mal so rasch als möglich! Wieviel urwüchsiger, echter Humor steckt in diesem kleinen Werk!
Quelle:
Süddeutscher Rundfunk, 17.7.1963