Gedanken zur Matthäuspassion von Bach

Süddeutscher Rundfunk, Datum ?

In wenigen Minuten wird eine große unsichtbare Gemeinde versammelt sein, um an dem Erlebnis einer Aufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach teilzuhaben. Wie groß auch immer die Unterschiede dieser Tausende von Hörern sein mögen, - alle sind sie bereit, aus ihrem Alltagsleben für einige Stunden in eine andere Welt einzutreten, sich durch eines der größten Kunstwerke unserer abendländischen christlichen Kultur erheben und reinigen zu lassen. Aber der Eintritt in diese andere Welt ist nicht ganz leicht, es müssen mannigfache Vorbedingungen erfüllt sein, und es ist nun meine Aufgabe, in diesen Minuten, ehe der Eingangschor der Passion aufklingt, Ihnen den Zugang zu dem Werk zu ebnen, Sie bis zum Vorhof des Tempels zu führen, dann aber schweigen die Worte, - in das Innere des Heiligtums treten Sie allein ein.

Ich sprach von einem Heiligtum. Ich würde mich nicht getrauen, ein solches Wort auf eine Symphonie von Beethoven oder Bruckner oder auf ein anderes Werk der reinen Musik anzuwenden. Denn das ist das Erste, wovon ich jetzt sprechen will: sie hören nicht nur ein bedeutendes Werk der Musik, Sie hören nicht nur Bachsche Musik, sondern Sie nehmen Teil an der Leidensgeschichte Jesu Christi, "wie Sie uns berichtet der heilige Evangelist Matthäus". Sie hören diesen Bericht, bereichert durch Strophen aus Passionsliedern und durch andächtige Betrachtungen in der Eindringlichkeit der Musik Bachs.

Schon im frühen Mittelalter hatte das Volk den Drang, die Begebenheiten der christlichen Heilsgeschichte, die es am stärksten bewegten, sich sinnfällig vor Augen zu stellen, die Passion, die Auferstehung, das jüngste Gericht, - daraus entstanden die Passionsspiele, und im Rahmen des Gottesdienstes die musikalische Darstellung der Handlung. Diese war lange Zeit ganz schlicht, wie die Passionen von Heinrich Schütz zeigen, im Hochbarock wurde aber das Absingen der Passion im Choralton durch eine reichere Ausgestaltung ersetzt: man fügte Choralstrophen ein, die anfänglich von der Gemeinde, später nur noch vom Chor gesungen wurden, und fügte Arien über betrachtende und erbauliche zeitgenössische Texte ein, und so wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts aller Reichtum der damaligen Musik aufgeboten, um die Leidensgeschichte dem Hörer so eindringlich wie möglich vor Augen zu stellen. Bei Komponisten minderen Ranges führte das vielfach zu einer beklagenswerten Veräußerlichung, und selbst bei der 1. Aufführung der Bachschen Matthäuspassion empörte sich eine fromme, adlige Dame über diese "theatralische Musik", - "Ist es doch, als ob man in einer Opera-Comödie wäre!" Was war denn so, als ob man in einer Oper sich befände? Nun, daß hier wie dort Arien und Recitative gesungen wurden, daß Orchester, obligate Instrumente mitwirkten, nur hörten die Zuhörer von damals nicht, mit welchem abgründigen Ernst Bach in diesen Formen musizierte!

Bach hatte schon 1723 eine Passion nach dem Evangelium des Johannes geschrieben, mit der er sich in Leipzig als Thomaskantor einführte, eine Passion nach Lukas ist unecht, eine nach Markus ist verloren und zum Teil in andere Werke eingegangen, - so haben wir von Bach nur noch die Matthäuspassion, die 1728 komponiert und 1729 am Karfreitag im Nachmittagsgottesdienst aufgeführt wurde. Schütz hatte für seine Passionen nur eine Textvorlage: das Bibelwort, Bach hat deren drei: den Passionsbericht im 26. und 27. Kapitel des Matthäusevangeliums, die eingeschobenen Choralstrophen und die freien Dichtungen der Arientexte. Es gehörte schon eine außerordentliche Bildkraft der Musik dazu, diese so sehr verschiedenartigen Texte musikalisch zu einer Einheit zusammenzuschweissen: den Bibeltext, die Passionslieder aus der Zeit nach der Reformation und die modischen Paraphrasen des 18. Jahrhunderts. Die Choralverse hat Bach selbst ausgesucht und so an ihren richtigen Platz gestellt, daß kein Theologe das hätte besser machen können. Sie versinnbildlichen die Teilnahme der Gemeinde, die zu Bachs Zeiten die Choräle nicht mehr mitsang, sondern dem Chor überließ. Den größten Wert legte die Zeit Bachs auf die freien betrachtenden Dichtungen, die den Arien zu Grunde liegen. Ein beliebter Lokaldichter in Leipzig, der unter dem Namen Picander weltliche und geistliche Gedichte mit viel Beifall herausgegeben hatte, hatte mit seinen "erbaulichen Gedanken zum Karfreitag" viel Beifall gefunden. Bach entnahm daraus, was er brauchen konnte, die Dichtung selbst konnte er freilich nicht verbessern, aber er schmolz die Worte so in seiner Musik um, daß wir ihre Banalität oder Empfindelei kaum mehr spüren, daß wir nur noch den Gehalt der Musik in uns aufnehmen. Diese Vielfältigkeit des Textes gab Bach aber die Möglichkeit, alle musikalischen Formen der damaligen Musik anzuwenden: Große, vom Orchester begleitete Chöre, schlichte Choräle, Recitative, Arien, und Arien mit dazutretendem Chor. Um diesen Reichtum zu bändigen, zu gliedern, ging Bach wie ein Architekt vor, der ein großes Bauwerk entwirft, und der Plan, nach dem Bach gearbeitet hat, ist ebenso bewundernswert wie die Ausführung im Einzelnen. Durch die Gottesdienstordnung war die Einteilung in zwei Teile gegeben, zwischen denen eine Predigt von einer Stunde Länge stand. Der 1. Teil geht von der Ankündigung Jesu an seine Jünger, daß nun seine Leidenszeit beginne, über die Szene in Bethanien, da Maria Magdalena ihn salbte, über den Verrat des Judas Ischarioth, das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern, die Szene in Gethsemane, bis zur Gefangennahme Jesu. Dieser Teil, der vor der Kreuzigung spielt, wird heute, am Abend vor dem Karfreitag, zur Aufführung kommen. Der zweite Teil, der morgen zur Aufführung kommen wird, führt uns über das Verhör Jesu, Petri Verleugnung, Jesu Verurteilung bis zur Kreuzigung, seinem Tod und Begräbnis.

Die musikalischen Mittel, die Bach für die musikalische Gestaltung dieser Szenen aufbot, waren gewaltig und auch er selbst hat sie in keinem anderen Werk mehr angewandt: 2 vierstimmige Chöre, die teils einander gegenübergestellt werden, teils sich zur Achtstimmigkeit vereinigen, zwei Orchester, jedes aus Streichern, Flöten, Oboen und Fagotten bestehend (die Mitwirkung von Trompeten und Pauken verbot sich am Karfreitag von selbst), zwei Orgeln (in der Thomaskirche die Hauptorgel und eine kleinere), und die Einzelstimmen als Vertreter der handelnden Personen. Auch sie waren entweder dem 1. oder dem 2. Chor zugeteilt, vielmehr nicht zugeteilt, sondern wurden aus ihm entnommen. Bach hatte keine Solisten in unserem Sinn, die Solopartien wurden vielmehr von den besten Stimmen der Thomaner gesungen, die Sopran- und Alt-Arien also von Knabenstimmen, - kein weibliches Wesen wirkte damals auf der Empore der Thomaskirche mit. So konnte Bach auch jede Person der Handlung mit einem besonderen Sänger besetzen: den Evangelienbericht sang ein Tenorist, die Worte Jesu ein Baß, ein anderer Baß den Petrus, den Pilatus den Judas usw., - aber damit nicht genug, mußten auch Sänger für die betrachtenden Arien zur Verfügung sein. Außerordentlich vielfältig ist die Rolle des Chors. Er ist Mitträger der Handlung, wenn er die Jünger Jesu darstellt oder das aufgeregte Volk, das die Kreuzigung Jesu verlangt, er repräsentiert aber ebenso die Gemeinde in den schlichten Choralsätzen, er alterniert mit den Solostimmen und er stellt im Anfangschor und in den Schlußchören beider Teile die großen Quadern hin, die dieses mächtige Gebäude zusammenhalten. Besonders großartig ist der Eingangschor, in dem die Töchter Zions um den Herrn klagen, dann aber ein dritter Chor von Knabenstimmen - in der Thomaskirche von der höchsten Empore herab den Choral "O Lamm Gottes unschuldig" anstimmt, und unsern Blick über die wogende Volksmenge hinweg zum Kreuz erhebt, an das der Gottessohn angeschlagen ist. Oder der Schlußchor des 1. Teils, eine riesige Choralfiguration des Chors über die 1. Strophe des Lieds "O Mensch, bewein dein Sünde groß", begleitet und umspielt von den unaufhörlichen Schluchzmotiven des Orchesters, oder der Schlußchor des ganzen Werks, bei dem wir wie eine bürgerliche Trauergemeinde vom Grab Jesu Abschied nehmen, aber die Musik Bachs in ihrer Größe sagt uns, daß es die ganze Christenheit ist, die hier um den Tod ihres Erlösers trauert. Bachs Deklamation in den Recitativen ist oft bewundert worden. Sie ist zugleich eindringlich, manchmal packend, und doch schlicht. Sie werden nur von der Orgel begleitet, nur da wo Jesus selbst spricht, begleitet ein vierstimmiges Streichorchester, es legt wie einen Heiligenschein um das Haupt Jesu. Zwischen den Recitativen und den Arien vermitteln Ariosos, d.h. ariose Recitative als Einleitung zu der folgenden Arie. Die Arien bedeuten, vom dramatischen Standpunkt aus gesehen, einen Stillstand der Handlung, sie geben der Empfindung des Einzelnen breiten Raum, und dienen der notwendigen Entspannung, ohne die wir ein Werk wie die Matthäuspassion nicht durchhalten würden. In ihnen ist Bach am meisten dem Stil seiner Zeit verhaftet, einige von ihnen könnten ohne Schaden wegbleiben, wenn dadurch nicht der Bauplan des ganzen Werks Schaden leiden würde. Erst neuere Untersuchungen haben gezeigt, wie durchdacht und bis ins Einzelnste ausgewogen der Bauplan der Matthäuspassion ist, wie gewisse Zahlenverhältnisse eine Rolle spielen, so daß man keinen Stein herausnehmen kann, ohne das Ganze zu gefährden. Jeder Hörer spürt ja die Größe dieser Architektonik Bachs. Wie weit ins Einzelne sie geht, mögen nur 2 Beispiele zeigen: Auf die Worte Jesu an seine zwölf Jünger: "Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten", fragen die Jünger erregt: "Herr, bin ich's?" In dem kurzen Chorsatz ertönt diese Frage aber nur 11 Mal, - Judas schweigt. Oder bei den Volkschören: "Lasst ihn kreuzigen", bilden die vier Noten des Kreuzige-Motivs ein liegendes Kreuz, wenn man die 1. und 4. Note und die 2. und 3. Note miteinander verbindet. In all dem sind noch Traditionen des Mittelalters bei Bach lebendig, bei ihm als letztem Meister der Musik.

Bach hat sein Werk noch 2 mal umgearbeitet, hatte aber keine große Lust mehr, es einer Gemeinde vorzuführen, die es zu verworren, schwülstig und gelehrt fand, er führte es am liebsten in kleinster Besetzung bei sich in der großen Stube des Thomaskantorats mit seinen Kindern, Schülern und Freunden auf. Nach seinem Tod schien auch dieses Werk für immer begraben zu sein, niemand interessierte sich mehr dafür. Erst als zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bach wie eine Riesenstatue allmählich wieder ausgegraben wurde, da unternahm es ein junger genialer Musiker von 18 Jahren, Felix Mendelssohn, ein Schüler von Zelter, die Matthäuspassion hundert Jahre nach ihrer Erstaufführung wieder zum Leben zu erwecken. Das war am 12. März 1829 in der Berliner Singakademie. Von dieser Aufführung ging die Wiedererweckung der großen Bachschen Chorwerke aus. Freilich würden wir heute über Mendelssohns Bearbeitung, in der fast alle Arien wegblieben, den Kopf schütteln. Wir bemühen uns heute, der originalen Auffassung Bachs so nahe wie möglich zu kommen: keine Riesenchöre mehr, kein großes Symphonieorchester, freilich auch nicht eine Kopie der sehr unzulänglichen Mittel, die Bach zur Verfügung standen, sondern einen kleineren Chor von 60 - 80 geschulten Stimmen, eine Durchführung der Doppelchörigkeit auch im Orchester und bei den Solisten, und statt romantischer pp-Wirkungen eine strengere, aber von Spannung erfüllte Haltung, wie sie der Hoheit des Stoffs und der Größe der Musik angemessen ist.

So bietet uns Bachs Passion nicht einen leicht entgegenzunehmenden Genuß, sondern viel mehr: sie verlangt von uns eine Loslösung vom Alltag, eine Bereitschaft, in diese höhere Welt einzutreten, die uns durch Bachs Musik so menschlich nahe gebracht wird. Aber diese Musik drückt ja nicht nur unsere Empfindungen so stark aus, daß wir manche Worte des Evangeliums uns nur noch in der Vertonung durch Bach denken können, sondern hier noch stärker als in andern Werken führt diese Musik uns über uns hinaus, stellt uns in eine höhere Ordnung hinein. Man muß nicht ein Musikgelehrter sein, um die Matthäuspassion zu verstehen, aber man muß sich ihr aufgeschlossen, demütig und ehrfürchtig nahen. Die unsichtbare Kirche, die es in der rauhen Wirklichkeit nicht geben kann, weil die Glaubensspaltung unübersteigbare Mauern aufgerichtet hat, hier wird sie zur Wirklichkeit, wo Menschen, die guten Willens sind, Menschen jeden Alters, jedes Standes, jeder Glaubensrichtung eine Gemeinschaft bilden, wenn sie die Leidensgeschichte Jesu Christi in der Verklärung durch die Musik Bachs erleben.

Quelle:
Süddeutscher Rundfunk