Max Reger

13.05.1966 - Manuskript zur Sendung in SDR2

Als Max Reger diese gewaltige Choralfantasie schrieb, war er 27 Jahre alt; er stand am Anfang einer Laufbahn, die ihn steil nach oben führte; als er 1916 im Alter von 43 Jahren starb, zählte er zu den führenden Männern der deutschen Musik. Es war die Zeit, da die Kämpfe des 1. Weltkriegs ihren Höhepunkt in den Schlachten vor Verdun und an der Somme erreicht hatten. Tausende junger Männer gaben damals ihr Leben hin, und doch wurde der Tod Regers als ein besonders schmerzlicher Verlust empfunden. Aber wie reich war das Lebenswerk, es umfasste ausser der Oper alle Gebiete der Musik, und es konnte an Umfang und Bedeutung mit dem eines der alten Meister verglichen werden. Wer war dieser merkwürdige Mann, der ein derartiges Arbeitspensum bewältigte und dem es gelang, ohne Protektion aus der Anonymität eines unbekannten Anfängers sich in die vorderste Reihe zu setzen?

Er war ein Lehrersbub aus der Oberpfalz; in ihm lebte die unverbrauchte Kraft von Geschlechtern, die sich in kleinbürgerlicher Enge nicht entfalten konnte, und die sich nun in diesem ehrgeizigen, in zäher Arbeit nach oben strebenden Musiker in einem stürmischen Schaffensdrang Bahn brach. Hugo Riemann, der grosse Theoretiker, hatte die ungewöhnliche Begabung des Buben erkannt, ihn in die Lehre genommen und ihm für seine ersten noch recht unselbständigen Kompositionen einen Verleger, Augener in London, und eine Stelle am Konservatorium in Wiesbaden verschafft. Bald duldete der gärende und brausende Geist keinen Mentor mehr; die Sturm- und Drangjahre in W. (Reger sagte "Trank-Jahre") endeten in einem Zusammenbruch, der den 23-jährigen wieder ins Elternhaus nach Weiden zurückführte, - wie es schien als gescheiterte Existenz.

Aber nun fing sich Reger: in vier Jahren zäher Arbeit schuf er die Werke - Orgel, Klavier, Kammermusik -, mit denen er sich in München, wohin er 1900 übersiedelte, der Öffentlichkeit stellen konnte. Wie war dieser Stil beschaffen, mit dem Reger sofort als ein Eigener auffiel, ein Stil, der in keine der bestehenden Gruppen und Schulen eingeordnet werden konnte? Es war eine merkwürdige Mischung heterogener Elemente. Wer um 1900 komponierte, schloss sich, wenn er Opern schreiben wollte, an die Wagner-Gruppe an, wenn er bei der absoluten Musik blieb, an Brahms. Das letztere tat Reger. Er überbot noch den vollgriffigen, rhythmisch komplizierten, weit auseinander gelegten Satz der Brahmsschen Klavierwerke, er verband ihn aber mit zwei anderen Komponenten: mit einer Ausweitung der tonalen Harmonik, die er bei Riemann gelernt hatte, und mit dem Fugenstil Bachs. Riemann hatte ihm gezeigt, dass das Feld der tonalen Harmonik noch lange nicht erschöpft sei, wenn man es nur nach allen seinen Richtungen ausschreite. Reger tat das und führte die tonale Harmonik bis an ihre Grenzen, - aber keinen Schritt darüber hinaus. In einem schmalen Bändchen "Beiträge zur Modulationslehre", legte er seine Ergebnisse nieder; seine Gegner nannten das Werk spöttisch einen "Fahrplan für Schnellzüge nach entfernten Tonarten", das mochte stimmen, aber mit Hilfe dieses Fahrplans gelangte Reger überall hin, wohin er wollte. Das war aber noch nicht die wichtigste Komponente seines Stils: diese war vielmehr die Wiederaufnahme der Formen der Barockmusik, besonders der Fugentechnik Bachs. Die Fuge war seit der Wiener Klassik aus der hohen Komposition in die Schulzimmer der Konservatorien verbannt worden, - Beethovens zwei Riesenfugen op. 106 und 133 waren ohne Nachfolge geblieben, nur in der Orgel- und Kirchenmusik fristete die Fuge noch ein bescheidenes Dasein. Reger erkannte, was für eine unverbrauchte Kraft in diesen Formen steckte, die anderthalb Jahrhunderte geruht hatten, - aber es musste versucht werden, sie aus den Enge des Theorieunterrichts hinauszuführen. Dies gelang ihm durch Ausweitung der Formen, auch Steigerung der technischen Anforderungen und durch Ausweitung der Harmonik. Diese Techniken praktizierte er in einer Zeit, da die Formen der Sonate und der Symphonie sich erschöpft hatten, Formen, in denen Brahms der letzte grosse Meister gewesen war; der müde gewordenen Musik der Spätromantik floss von Bach daher frisches Blut, neue Kraft zu. Diese recht heterogenen Stilelemente hätten leicht auseinanderfallen können, aber Reger zwang sie durch seine Persönlichkeit zusammen. Der Mensch Reger hatte einen massiven Körper, ein bleiches Gesicht, aus dem zwei graublaue Augen hinter der Brille sich forschend auf sein Gegenüber richteten, oft angriffslustig und gegebenenfalls auch zu grober Abwehr bereit, oft auch mit einem hintergründigen Humor, aber auch welche Zartheit und Weichheit war in diesem kolossalen Körper verborgen! Welcher feinster Nuancen waren diese fleischigen Hände beim Klavierspiel fähig; man muss die langsamen Sätze seiner Kammermusikwerke von ihm selbst gehört haben, um das ganz zu verstehen. Freilich bewegte sich sein Spiel meist zwischen p und pp oder zwischen f und ff. Gegen ein Regersches ff aufzukommen, war fast unmöglich, wie ich erleben musste, als ich mit ihm seine Werke für 2 Klaviere spielen durfte, ebenso konnte man die Delikatesse seines pp nie erreichen. Er liebte es, seine Werke so genau zu bezeichnen, dass kaum eine Note ohne Vortragszeichen (und ohne Versetzungszeichen) blieb.

Er besass einen tiefgründigen Humor, etwas das nicht alle Musiker besitzen und besessen haben; die berühmten Regerwitze bei feuchtfröhlichen Nachsitzungen nach Konzerten, waren ein Ausdruck davon, ebenso wie auf höherer Ebene die Scherzosätze mit ihren huschenden, rasch umspringenden Figuren, ihrem durchbrochenen Satz. Dass hinter diesem Humor sich bei Reger eine tiefe Melancholie verbarg, das sagen viele monologische Partien seiner Werke, viele Adagiosätze, andererseits sind auch seine Allegrosätze oft gehemmt, wie mit Trotz geladen. Er war gewiss kein ausgeklügelt Buch, er war ein Mensch mit seinem Widerspruch, wie C. F. Meyer von Hutten sagte. Aber staunenswert ist die Entwicklung, die Max Reger durchgemacht hat, als "geprägte Form, die lebende sich entwickelt: vom stellen- und titellosen "Herrn Max Reger", als den ich ihn in München kennen lernte, zu Prof. Hofrat, GMD und doppeltem Ehrendoktor von Jena und Leipzig. Seine Frau Elsa v. Bagenski, mit der er sich in der Dorfkirche von Boll, auf der schwäbischen Alb, trauen liess, war ihm eine treue Begleiterin auf diesem Wege.

Das Auftrumpfende, Kraftmeierische, das viele seiner frühen Werke an sich haben, schleift sich ab. Der Stil bleibt wohl derselbe, aber verliert seine Kanten, wird geschmeidiger, es ist eine Entwicklung, die man auch bei Brahms feststellen kann. Die ersten epochemachenden Werke von R. waren Orgelwerke, die grossen Choralfantasien über prot. Choräle, in denen er, der Katholik, alle Strophen des Lieds sinfonisch durchkomponierte, Werke, mit denen er der Orgelmusik einen ganz neuen Auftrieb gab, nachdem sie seit Bachs Tod ein Aschenbrödeldasein geführt hatte. Die Anforderungen, die er an den Spieler wie an das Instrument stellte, waren damals fast unerhört, aber sie wurden bewältigt, und der Aufschwung der Orgel und des Orgelspiels bis zur heutigen Höhe nimmt seinen Ausgang von Reger.

Dann aber tritt die Orgel in seinem Schaffen zurück, wenn er sie auch nicht ganz aufgibt; Klavier und Kammermusik treten in den Vordergrund, später auch Orchester und Chor.
Sie hören anschliessend das Klarinetten-Quintett von Reger, seine letzte Komposition, die er wenige Monate vor seinem Tod fertigstellte und seinem Freunde Karl Wendling in Stuttgart, widmete. So bilden die Orgelfantasie und das Quintett zwei Eckpfeiler in Regers Schaffen; das Quintett kann sich mit Fug und Recht neben das Klarinetten-Quintett von Brahms stellen, auch ein Spätwerk, das die Vergeistigung des Brahmsschen Stils ebenso zeigt wie das Reger. Noch mehr als bei Brahms ist hier die Klarinette mit dem Streichersatz verwoben; im Adagio ist sie Trägerin einer fast überirdischen traumhaften Zartheit und Weichheit. Was zwischen diesen Eckpfeilern steht, ist von einer fast verwirrenden Vielfalt der Formen. Aus ihnen sei nur eine Form hervorgehoben, in der Reger ebenfalls die Linie von Brahms fortsetzt: die Form der Variation. Die Linie beginnt mit den Goldbergvariationen von Bach, setzt sich bei Beethoven in den Diabelli-Variationen fort, wird von Brahms in seinen V. über Themen von Händel, Haydn, Paganini und Anderen fortgeführt. Reger hat sie in seinen V. über ein Thema von Bach (dem Ritornell einer Kantaten-Arie) übernommen, und in weiteren Arbeiten fortgesetzt; in den V. über ein Thema von Beethoven (das Thema ist die letzte Bagatelle in op. 119 ), in Orgel-Variationen über ein eigenes Thema, in Orchester-Variationen über ein Thema von Joh. Adam Hiller und von Mozart, und den Telemann-Variationen für Klavier. Meist steht am Ende eine Fuge, mit deren Thema zum krönenden Abschluss das Variationen-Thema kombiniert wird. Die Beethoven-Variationen, die für 2 Klaviere komponiert waren, hat Reger in seinen letzten Lebensmonaten noch instrumentiert und etwas gekürzt; in dieser Fassung werden sie am Schluss unserer Sendung erklingen.

Reger war aber nicht nur ein Meister der grossen, sondern auch der kleinen Formen. Davon zeugen Sammlungen kleinerer Klavierstücke ("Aus meinem Tagebuch" u.a.); auch unter den kl. Orgelstücken sind Perlen, wie das romantische Benedictus.
Wenn Reger auch keine Klaviersonaten geschrieben hat, so doch 4 Sonatinen, von denen sie nachher die in a-moll hören werden. Hier hat die Beschränkung in der Form und in den Mitteln kleine Meisterwerke hervorgebracht, die längst schon in der Haus- und Unterrichtsmusik ihren festen Platz errungen haben.

Am spätesten hat sich Reger dem Orchester zugewandt, eigentlich erst, als er in Meiningen Dirigent der altberühmten Kapelle wurde. In München hatte sein 1. Orchesterwerk, die Sinfonietta, eine kühle Aufnahme gefunden und war in der Kritik ablehnend beurteilt worden. Darauf beschloss die Reger-Klasse, dem Kritiker, Rudolf Louis, eine Katzenmusik zu bringen; der hatte aber die Lacher auf seiner Seite, als er in seine Zeitung, die Münchener Neuesten Nachrichten, eine Notiz einrücken liess, er danke den Schülern Regers, die ihm Bruchstücke aus der Sinfonietta zu Gehör gebracht hätten.
In der Tat ist der Satz der Sinfonietta zu orgelmässig und zu dick, um heute noch zu wirken. Zu der immer weiter gehenden Vergeistigung seines Stils gehört auch die Hinwendung zur Chormusik a-cappella in seinen letzten Werken; sie geht zusammen mit einer Hinwendung zur Religion; freilich war Reger immer ein religiöser Mensch gewesen, aber er hatte von den Formen der Kirche wenig Notiz genommen.
Man darf vielleicht sagen, dass Reger ein Vielschreiber im besten Sinne des Wortes gewesen ist. Auch Vivaldi und Franz Schubert waren Vielschreiber; Schumann sagte einmal, wenn Fruchtbarkeit ein Kennzeichen des Genies ist, dann war Schubert eines der größten unter ihnen. Und wenn Genie ohne Fleiss undenkbar ist, so war sicherlich Reger einer der fleissigsten Komponisten. Er hatte sich dazu erzogen, zu jeder Zeit und in jeder Lage komponieren zu können. Oft waren Werke zur Uraufführung schon angenommen, die noch gar nicht komponiert waren. Bei seiner ausgedehnten Konzerttätigkeit und seinen vielfachen Unterrichtsverpflichtungen blieben fast nur die Sommerferien, in denen die für die kommende Saison bestimmten Werke ausgearbeitet wurden. Und diese wurden oft ohne Konzept gleich ins Reine geschrieben.
Reger war kein Pianist im eigentlichen Sinne; er spielte seine eigenen Werke, darüberhinaus noch etwa die Violinsonaten von Brahms, und solistisch einige Stücke aus dem Wohltemperierten Klavier und diese mit einer Delikatesse, die heute viele als unbachisch ablehnen würden.
Als Lehrer verlangte er, dass man sich durch beständiges Komponieren "frei schreiben" sollte; diese Methode hat vor allem sein begabtester Schüler, Josef Haas, befolgt. Unter weiteren Schülern der Münchner Zeit nenne ich den schwerblütigen, tiefgründigen Karl Hasse, den Dirigenten Franz von Hösslin, den Musikwissenschaftler Jacques Handschin. Wir waren eine bunte, zusammengewürfelte Gesellschaft. Ein lustiges Völkchen, das da im Odeon München die Regerklasse bildete und natürlich zu den Schülern von Thuille in ausgeprägtem Klassengegensatz stand. Wie idyllisch damals die Zustände der Münchner Akademie der Tonkunst (wie sie sich stolz nannte) waren, dafür ein kleines Beispiel: Die Unterrichtsräume lagen im 1. Stock des Odeon, um den Saal gruppiert; es gab zwei Treppen, von denen laut Anschlag eine für die Schüler, die andere für die Schülerinnen bestimmt war; ausserdem stand in den Statuten, dass ausserhalb der gemeinsamen Unterrichtsstunden den Schülern jeder Verkehr mit den Schülerinnen untersagt sei!
Nun sind 50 Jahre seit Regers Tod vergangen, fünf Jahrzehnte, in denen die Musik völlig neue Wege gegangen ist. Reger gehört dieser neuen Generation nicht an. Er bildet die Brücke von Brahms zu Hindemith; sein Werk ist ganz in sich abgeschlossen. Er kannte Debussy, hatte aber zu ihm keine Beziehung, er und Strawinsky stiessen sich gegenseitig ab, und die Atonalität Schönbergs lehnte er radikal ab (wie übrigens die meisten Musiker vor dem 1. Weltkrieg). Darum schien es, als ob in den letzten Jahrzehnten sein Stern im Verblühen oder gar im Untergehen sei. Allein für die Fortdauer eines Kunstwerkes entscheidet ja nicht die Richtung, die er vertritt, sondern einzig seine Qualität. Gewiss ist auch bei Reger nicht alles gleichwertig so wenig wie bei Vivaldi oder Schubert -, - mit einem so schweren Gepäck wie es Regers Werke in ihrer Gesamtheit darstellen, kommt man nicht auf die Nachwelt, - aber wenn auch nur ein Teil, der beste Teil dieser Werke weiterlebt, ist das schon viel ein reiches Erbe, das zu verwalten unsere Aufgabe ist.

Quelle: Schreibmaschinen Manuskript