musica schallplatte 1961

1961 · 1

Johann Sebastian Bach Zwei Kantaten
JOHANN SEBASTIAN BACH:
Kantate BWV 117 Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut,
Kantate BWV 93 Wer nur den lieben Gott läßt walten.
Ingeborg Reichelt, Lotte Wolf-Matthäus, Johannes Feyerabend, Hans-Olaf Hudemann, Dirigent: Ludwig Doormann.
Cantate Can 1201 LP, 33 U, DM 24.-

JOHANN SEBASTIAN BACH:
Kantate BWV 169 Gott soll allein mein Herze haben,
Kantate BWV 157 Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Lotte Wolf-Matthäus, Hans Joachim Rotzsch, Roland Kunz. Dirigent: Diethard Hellmann.
Cantate Can 1202 LP, 33 U, DM 24.-

Auf dreißig Langspielplatten will das Cantate-Bachstudio "Beispiele aus dem vokalen Schaffen von Johann Sebastian Bach" bringen. Vorgesehen sind zwanzig Platten mit Kantaten, wobei besonders die weniger bekannten berücksichtigt werden sollen, acht mit oratorischen Werken, zwei mit Motetten. Angestrebt wird möglichste Text- und Stiltreue. Die Einführung zu den Kantaten schreibt Alfred Dürr, der auch im Herausgeber-Gremium der Neuen Bach-Ausgabe maßgeblich beteiligt ist. So darf man ohne Übertreibung sagen, daß hier ein Plan verwirklicht wird, der sich an Bedeutung sowohl für die Liebhaber und Kenner wie auch für die Forschung mit der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon Gesellschaft vergleichen läßt. Es ist zu begrüßen, daß das Hauptgewicht auf das Kantatenschaffen Bachs gelegt wird, denn diese Werke, die den Haupt- und Großteil des vokalen Schaffens von Bach ausmachen, haben heute nirgends mehr eine richtige Heimat: im evangelischen Gottesdienst können sie keine Stätte mehr finden, weil ihr konzertanter Charakter, der den Zeitgenossen Bachs gemäß war, uns Heutigen nicht mehr liturgisch tragbar erscheint, andererseits eine Konzertaufführung in der Kirche oder im Konzertsaal wohl die relativ beste Lösung des Problems darstellt, die Kantaten aber doch aus dem Zusammenhang mit dem Evangelium des Sonntags, auf das sie geschrieben sind, herausreißt. Zudem sind die Schönheiten der Kantaten bei nur einmaligem Hören nicht alle erfaßbar; hier tritt nun die Schallplatte ein und hat eine große, wichtige Mission zu erfüllen. Es macht nicht viel aus, ob die klassischen und romantischen Symphonien in immer noch weiteren Aufnahmen mit immer noch berühmteren Dirigenten dargeboten werden, ob wir sechs oder zehn erstklassige Aufnahmen der Appassionata oder der Sonate op. 111 besitzen, unter denen wir feinschmeckerisch wählen können und wählen, hier aber ist ein fruchtbares, noch kaum beackertes Erdreich, das reiche Frucht tragen kann. Es gibt wohl einige Aufnahmen von Kantaten, zum Teil von großen Dirigenten, die ihre Persönlichkeit auch in der Musik Bachs auszudrücken vermocht haben, es gibt Aufnahmen von Kantaten in ausländischen Produktionen, die hohen stilistischen Ansprüchen genügen, aber für Deutschland bedeutet das Cantate-Unternehmen etwas Neues. Auch der Zeitpunkt ist gut gewählt: die Platten können sich auf die philologisch einwandfreien neuen Texte der Neuen Bach-Ausgabe stützen. Das Programm sieht unter den Kantaten besonders solche vor, die noch in keiner Platten-Wiedergabe erhältlich sind; diese sollen "in einer stil- und zeitnahen Darstellung geboten werden" (wobei unter zeitnah ja doch wohl die Zeit Johann Sebastian Bachs gemeint ist). Es versteht sich von selbst, daß Starbesetzungen, Riesenchöre, große Orchester und was sonst noch vor einigen Jahrzehnten für die Konzertaufführungen großer Chöre in großen Städten unerläßlich schien, daß dies alles vermieden ist.

Nun liegen in zwei Langspielplatten die ersten vier Kantaten vor, und man darf den Leitern und den Ausführenden bestätigen und sie dazu beglückwünschen, daß ihnen gelungen ist, was sie erstrebten. Es ist ein Musizieren, bei dem das Werk in den Vordergrund und die eigene Leistung in den Hintergrund tritt, weswegen auch hier keine Namen von Instrumentalsolisten genannt werden sollen. Es ist ein sauberes, ich möchte sagen, norddeutsch korrektes Musizieren, an dem man seine Freude haben muß. Wenn z. B. im ersten Satz der Kantate 157 drei obligate Instrumente (Flöte, Oboe, Violine) und zwei Vokalstimmen (Tenor und Baß) zusammen ein Quintett bilden, so kann man diese zusammenfließenden fünf Stimmen wirklich verfolgen. Hört man nun diese Kantaten und liest in der Partitur mit, so denkt man fast immer: ja, so ist es richtig, so muß es sein, so steht es da. Darf ich aber sagen, daß mir in einigen Punkten diese Korrektheit etwas zu weit getrieben zu sein scheint? So im Tempo: wir erleben fast immer nur das Tempo ordinario; bei keinem Satz hat man den Eindruck, er sei lebhaft oder er sei langsam. Das würde mich in einer Aufführung unbefriedigt lassen, allein wenn man eine Platte oft hört (und dazu ist sie ja da), dann vermißt man das wahrscheinlich nicht mehr; eine Platte muß objektiver sein als eine Konzertdarbietung. Ebenso ist es mit der Dynamik: sie ist stets wohltemperiert, wir hören nie ein pp, das wohl den Ausführenden als "romantisch" und daher unzulässig erschienen wäre, obwohl Bach es ja mehrmals ausdrücklich vorschreibt, wenn auch nicht in diesen vier Kantaten, und ebensowenig gibt es ein strahlendes Forte. Auch die von Bach selbst vorgeschriebenen Unterschiede von forte und piano sind oft auf ein Minimum reduziert, so daß im ersten Satz von Kantate 169 die konzertierende Orgel (Übertragung aus dem Klavierkonzert in E-Dur) bisweilen von den begleitenden Streichern verdeckt wird. Es ist ja merkwürdig, daß ein halbes Dutzend Streicher sich gegen eine gleich starke Orgel spielend durchsetzt, aber nicht umgekehrt. In Kantate 117 hören wir zum Schluß den Eingangschor wieder, während in den seitherigen Ausgaben fälschlich der Choral Nr. 4 wiederholt wurde. Ganz ausgezeichnet ist die Kantate 93 gelungen. Daß hier im ersten Satz die von Bach vorgeschriebenen Chortriller wegbleiben, ist nur gut. Dagegen ist mir in der Tenor-Arie "Man halte nur ein wenig stille" das Zeitmaß etwas zu fließend. Dürr deutet sie als "menuettartig, fröhlich", sie ist aber innig, versunken, die "Stille" des Gemüts wird durch die alle zwei Takte eintretenden Pausen dargestellt, die erlebt werden müssen. Ebenso ist es mit dem bekannten Duett "Er kennt die rechten Freudenstunden", das Dürr anmutig nennt und das munter musiziert wird, wobei aber die Innigkeit der den Cantus firmus umschreibenden Melodie zu sehr verblaßt. Alles in allem: eine wichtige, hocherfreuliche Neuerscheinung, wir freuen uns schon auf die Fortsetzung!
Hermann Keller

Quelle:
musica schallplatte 1961 1, S. 30-31

1961 · 3

TOMMASO ALBINONI:
Konzert d-Moll, op. 9, Nr. 2, für Oboe und Streicher, zwei Konzerte in A-Dur (op. 9, Nr. 4) und E-Dur (op. 9, Nr. 10) für Violine und Streichorchester, Sonata g-Moll, op. 2, Nr. 6, für Streichorchester und Continuo.
I Musici.
Philips, A 00 539 L, 33 U, DM 24.-

Tommaso Albinoni, Zeitgenosse und engerer Landsmann von Antonio Vivaldi, wie dieser fruchtbarer Opern- und Kammer-Komponist, von Bach geschätzt, ist heute nur in wenigen Neuausgaben der Praxis wieder erschlossen. Er, der sich selbst in seinen ersten gedruckten Werken einen "Dilettante Veneto" nannte, hat zurückgezogener gelebt als der so viel berühmter gewordene Vivaldi, und die vier auf der Platte vereinigten Werke weisen ihn als einen gediegenen, sympathischen Komponisten aus. Er hat nicht die Genialität, die manche Werke Vivaldis auszeichnet, aber auch nicht die Flüchtigkeit, die man da und dort bei Vivaldi feststellen muß. Die Wiedergabe ist einwandfrei und stilsicher. Ein erfreulicher Zuwachs an guter italienischer Kammermusik.
H. K.

Quelle:
musica schallplatte 1961 3, S. 61

1961 · 4

JOHANN SEBASTIAN BACH:
Bach-Kantaten "Jauchzet Gott in allen Landen"; "Gott ist mein König",
Agnes Giebel, Marga Hoeffgen, Hans-Joachim Rotzsch, Theo Adam, Der Thomaner-Chor. Das Gewandhaus-Orchester, Leitung: Kurt Thomas.
Electrola STE 80 494, 33 U, DM 21.

Die Solokantate "Jauchzet Gott in allen Landen", ein Glanz- und Virtuosenstück für Koloratursopran, wo die Singstimme wie eine Bachtrompete geführt ist und diese mit dem Sopran duettiert wie eine Menschenstimme, ist nur ganz selten wirklich befriedigend zu hören, sooft auch ehrgeizige Sopranistinnen sich an ihr versuchen. Hier aber ist es gelungen: der herrliche Sopran von Agnes Giebel fügt sich wie eine führende obligate Stimme dem Ensemble ein, die Solotrompete ist rein und sicher, wenn auch eine gewisse Schärfe des Tons nicht ganz zu vermeiden ist, und der Stil der Aufführung, wie nicht anders zu erwarten, musterhaft. Vielleicht tritt die Orgel bei den nur vom Continuo begleiteten Partien klanglich allzusehr zurück. Die Kantate "Gott ist mein König", die am 4. Februar 1708 in Mühlhausen beim Ratswechsel aufgeführt wurde, Bachs erste Kirchenkantate und zugleich die einzige in seinem ganzen Leben, die (zum Gedächtnis dieses Tages) gedruckt wurde, gibt uns einen interessanten Einblick in Bachs Jugendstil. Er ist hier noch mehr der älteren deutschen Tradition verhaftet; es fehlen noch die großen Opernarien im italienischen Stil seiner Leipziger Kantaten. Manches in den fugierten Teilen ist noch etwas steif geraten, und wenn im Schlußchor gesungen wird: "Glück, Heil und großer Sieg / muß täglich von Neuem / Dich, Joseph, erfreuen", so weiß der Hörer ohne Kommentar wohl kaum, daß diese gutgemeinte Reimerei dem Kaiser Joseph I. gilt, der 1705 1711 regierte. Andererseits sind geradezu rührende Züge in dieser Jugendkomposition eine Gabe für Kenner und Liebhaber!
H. K.

Quelle:
musica schallplatte 1961 4, S. 89

1961 · 6 (1)

JOHANN SEBASTIAN BACH:
"Meine Seufzer, meine Tränen"; "Wo gehest du hin".
Hanni Wendlandt, Lotte Wolf-Matthäus, Helmut Krebs, Roland Kunz, Kantorei St. Nikolai Berlin-Spandau; Bach-Orchester-Berlin; Dirigent: Helmut Barbe.
Cantate CAN 1205 LP, 33 U, DM 25.-

Das Bach-Studio setzt seine so erfolgreich begonnene Herausgabe wertvoller und weniger bekannter Bach-Werke fort mit zwei Solo-Kantaten, in denen alle vier Gesangstimmen vertreten sind. Besonders schön der Zusammenklang von Tenor, zwei Blockflöten, Oboe da caccia und Continuo in der ersten großen Arie von Kantate 13. In der zweiten Kantate wird die Arie "Ich will an den Himmel denken" zum erstenmal mit der richtigen Instrumentalbesetzung, nämlich Oboe und Violinen, mitgeteilt, während in der Ausgabe der Bach-Gesellschaft nur die Oboe als obligates Instrument angegeben war. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die geistvollen und sachkundigen Erläuterungen von Alfred Dürr.
H. K.

Quelle:
musica schallplatte 1961 6, S. 140

1961 · 6 (2)

JOHANN SEBASTIAN BACH:
"Lobet Gott in seinen Reichen."
Elisabeth Grümmer, Marga Hoeffgen, Hans-Joachim Rotzsch, Theo Adam. Thomanerchor, Gewandhausorchester. Orgel: Hannes Kästner. Dirigent: Kurt Thomas.
Electrola E 60 659, 33 U, DM 15.

Bachs große, zweigeteilte Kantate auf das Himmelfahrtsfest erfährt hier eine lebendige, beschwingte Wiedergabe. Bach schildert in den drei festlichen Chorsätzen (ein besonderes Lob der glänzenden Solo-Trompete!) die Majestät des erhobenen Gottes-Sohnes, in den Solopartien des ersten Teils den Schmerz der Gemeinde über seinen Abschied, im zweiten Teil die Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr. Die Alt-Arie "Ach bleibe doch, mein liebstes Leben", die Bach bekanntlich wieder in der h-Moll-Messe verwendet hat, könnte man sich drängender, leidenschaftlicher vorgetragen denken. Ausgezeichnet ist der Orgelpart. Könnte man aber nicht die unfreiwillige Komik des Textes "Nun lieget alles unter Dir, Dich selbst nur ausgenommen" durch eine leichte Änderung beseitigen (etwa: "die Macht hast Du genommen")?
H. K.

Quelle:
musica schallplatte 1961 6, S. 140